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Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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ein Haar stieß Lara mit dem brasierten Rotbarschfilet zusammen, das zwei Serviceangestellte auf einem Wagen durch die Tür in das Zimmer schoben.
    Lara ging zurück an ihren Platz und setzte sich wieder. Ungeduldig sah sie zu, wie der Hauptgang serviert wurde. Als
sie wieder allein waren, meinte sie giftig: »Deine letzte Chance, Paresh!«
    »Die Sache mit diesem Schweizer Hilfswerk«, seufzte er. »Dein Vater, Sir Peter, hatte die Akte damals, gleich nachdem er Charlotte adoptiert hat … Nun ja, er hatte sich die Akte beschaffen lassen. Von diesem Mann, mit dem er sich auf dem Band unterhält. Ein Schweizer. Ist den ganzen Fällen nachgegangen, soweit ich orientiert bin. Dein Vater hat alles akribisch festgehalten … dokumentiert und ergänzt. Kennst ihn ja, deinen alten Herrn. Wollte nichts dem Zufall überlassen.« Paresh machte eine kurze Pause, und als Lara nicht reagierte, fuhr er fort: »Du weißt es wirklich nicht?«
    Lara schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie bitter. »Sonst würde ich wohl kaum hier sitzen, oder?«
    »Ich weiß es nur deshalb, weil er mich damals gefragt hatte, ob ich jemanden weiß, der sich mit Mikrofiche auskennt. Ich nannte ihm einen Kollegen, den ich von der Uni her kannte, und der sich auf so was spezialisiert hat.« An dieser Stelle schwieg der Sicherheitsoffizier einen Moment, dann lächelte er etwas verlegen. »Nun gut. Jedenfalls hat mein Bekannter ein paar Bemerkungen in dieser Richtung fallenlassen … recht vage allerdings. Dein Vater muss die ganze Zeit neben ihm gestanden haben, als sie die Dokumente fotografierten. Sir Peter war ganz versessen darauf, dass sich niemand die Akte ansehen konnte.«
    »Und du weißt nicht, wo die Akte jetzt ist?«
    »Keine Ahnung, ehrlich.«
    »Mhm …«, machte Lara. Sie blickte an Paresh vorbei zur Wand, auf das Bild mit den stechend gelben Forsythien. »Vielleicht wollte er mit mir darüber sprechen … später. Manchmal hat er gesagt: ›Es gibt so viele Dinge, die ich dir noch sagen muss, mein Liebling‹ – ja, ›mein Liebling‹ hat er gesagt.« Lara hielt einen Moment inne. »Eltern sind so, habe ich mir damals gedacht. Sie wollen einem immer noch etwas erzählen … Aber es könnte jaauch sein, dass er mit dieser Arbeit noch gar nicht fertig war.« Von den Forsythien wanderte ihr Blick weiter durchs Zimmer. »Vater hasste Dinge, die nicht zu Ende gedacht waren … und er sprach erst darüber, wenn alles Hand und Fuß hatte.«
    Paresh nickte.
    Lara sah ihr Gegenüber nun wieder an. »Glaubst du, Charlotte war eines dieser jenischen Kinder, die man ihren Eltern weggenommen hatte?« Sie war erstaunt über den Tonfall, mit dem sie die Frage an Paresh richtete. Ihre Stimme hatte nicht die übliche Härte. Das fordernde Timbre war einer zurückhaltenden Melancholie gewichen. Vielleicht stellte man die großen Fragen leise, dachte sie.
    Paresh seufzte, als wäre der Bruch in Laras Stimme auch ihm aufgefallen. »Ich weiß es nicht, Lara«, sagte er. »Aber weil ich diese Bänder auch noch nie gehört habe, ist es wohl am besten, wir beißen uns da durch.«
    »Du meinst, es ist mehr drauf, als ich schon gehört habe?«
    »Es sind vier Kassetten. Wir werden’s herausfinden«, sagte Paresh.
    Als das Servicepersonal den Flan Caramel bringen wollte, waren Lara und Paresh bereits auf dem Weg zurück zur Patientensuite.
    »Ich versteh immer noch nicht, warum mein Vater sich für jedes einzelne dieser Schicksale interessierte. Und was es mit Charlotte auf sich hat …«
    Sie hatten sich die zweite Kassette angehört, Lara hatte übersetzt und Paresh legte nun die dritte in den Walkman. »Hören wir weiter«, sagte er.
    Paresh drückte die Play-Taste.
    »Was denkst du, wie alt sind diese Aufnahmen?«
    Paresh zuckte die Achseln.
    Lara hatte sich an die Stimme ihres Vaters gewöhnt. Sie empfand sie nicht mehr als unangenehm, im Gegenteil. Dieser warme,fürsorgliche Bariton. Lara war, als käme ihr Vater für eine Weile zurück aus dem Jenseits. Als säße er bei ihnen, hier in ihrem Schlafzimmer im Princess Grace .
    »Ich habe mir die Kategorien nochmals durch den Kopf gehenlassen«, sagte die vertraute Stimme. »Ich finde, wir sollten das so machen. Haben Sie die Aufteilung vorgenommen?«
    Papier raschelte. Dann sprach der Fremde: »Insgesamt sind es 633 jenische Kinder, die man in der Zeit von 1926 bis 1973 von ihren Eltern weggenommen hat. Davon leben heute noch 412 . Wobei ich in 65 Fällen noch recherchiere. Da weiß ich noch nicht,

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