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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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vögeln, ohne Ende vögeln. Er war der erste Mann in meinem Leben. Das erste Mal war eigentlich so … hm … pure Neugier – was passiert da? Das nächste Mal – auch … und eigentlich … irgendwie technisch … Na, eben Körper … Körper, Körper … Körper und sonst nichts! So ging das ein halbes Jahr. Und ihm war es eigentlich nicht unbedingt wichtig, dass gerade ich das war, er hätte auch etwas anderes finden können. Aber aus irgendeinem Grund heirateten wir … Ich war zweiundzwanzig. Wir besuchten zusammen die Musikschule, machten alles gemeinsam. Und dann geschah es … in mir brach etwas auf … Aber mir war dieser Moment gar nicht bewusst … als ich meine Liebe zum männlichen Körper entdeckte … Plötzlich gehört er ganz dir … Ich weiß gar nicht … für mich ist das größer als der einzelne Mensch … etwas Universelles … Du bist nicht mehr hier, sondern irgendwo anders … Das war eine wunderbare Geschichte … Sie hätte endlos weitergehen und ebenso in einer halben Stunde enden können. Ja … Ich ging fort. Ich ging von mir aus. Er flehte mich an zu bleiben. Aber ich hatte aus irgendeinem Grund beschlossen, ihn zu verlassen. Ich war ihn so leid … Mein Gott, war ich ihn leid! Ich war schon schwanger, hatte einen dicken Bauch … Was sollte ich mit ihm? Wir haben gevögelt, uns gestritten, dann habe ich geweint. Ich konnte damals noch nicht dulden … Nicht verzeihen.
    Ich habe das Haus verlassen, die Tür hinter mir geschlossen und plötzlich eine große Freude verspürt, weil ich weggehen würde. Für immer. Ich bin zu meiner Mutter gefahren, er kam sofort angerannt, mitten in der Nacht … er war vollkommen verwirrt: Sie ist schwanger, aus irgendeinem Grund ständig unzufrieden, dauernd will sie irgendwas. Sag, was willst du denn noch? Aber ich hatte diese Seite schon umgeblättert … Ich war sehr froh, dass ich ihn gehabt hatte, und sehr froh, dass er nicht mehr da war. Mein Leben ist wie eine Sammelbüchse. Etwas war da – und ist weg, war da – und ist weg.
    Ach, die Geburt von Anka war so schön … das hat mir so gefallen … Erst ging das Fruchtwasser ab – ich bin immer viele Kilometer gelaufen, und irgendwo unterwegs, nach etlichen Kilometern im Wald, ging das Fruchtwasser ab. Ich wusste nicht so recht – muss ich nun gleich ins Krankenhaus? Ich habe bis zum Abend gewartet. Es war Winter – heute kann ich das kaum noch glauben –, vierzig Grad minus. Die Baumrinden knackten. Trotzdem beschloss ich zu gehen. Die Ärztin untersuchte mich: »Die Geburt wird wohl zwei Tage dauern.« Ich rief zu Hause an: »Mama, bring mir Schokolade. Ich muss noch lange hier liegen.« Vor der Morgenvisite schaute kurz eine Schwester vorbei. »Hör mal, das Köpfchen kuckt ja schon raus. Ich rufe die Ärztin.« Und dann – ich sitze auf dem Stuhl … Sie sagen: »Da, da. Gleich, gleich.« Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist … Aber bald … sehr bald … Da zeigten sie mir ein Bündel: »Du hast ein Mädchen.« Sie wurde gewogen – vier Kilogramm. »Sieh an, kein einziger Riss. Sie hatte Mitleid mit der Mama.« Ach, und als sie mir am nächsten Morgen gebracht wurde … Die Augen – nur Pupillen, schwarz und schwimmend. Da sah ich nichts anderes mehr …
    Für mich begann ein neues, ganz anderes Leben. Es gefiel mir, wie ich nun aussah. Überhaupt … Ich wurde auf Anhieb schöner … Anka behauptete sofort ihren Platz, ich liebte sie abgöttisch, aber sie hatte für mich irgendwie überhaupt nichts mit einem Mann zu tun. Damit, dass sie einen Papa hatte. Sie war vom Himmel gefallen! Vom Himmel. Als sie dann sprechen konnte, wurde sie gefragt: »Anetschka, hast du denn keinen Papa?« »Statt einem Papa habe ich Oma.« »Hast du denn keinen Hund?« »Statt einem Hund habe ich einen Hamster.« So sind wir alle beide … Ich hatte mein Leben lang Angst, plötzlich nicht mehr ich zu sein. Selbst beim Zahnarzt bat ich: »Geben Sie mir keine Spritze. Keine Schmerzbetäubung.« Meine Gefühle, das sind meine Gefühle, ob gute oder Schmerzen, schaltet mich nicht ab von mir. Anka und ich mochten uns. Und so trafen wir ihn … Gleb …
    Wäre er nicht er gewesen, hätte ich niemals wieder geheiratet. Ich hatte alles: ein Kind, eine Arbeit, meine Freiheit. Und plötzlich er … Linkisch, fast blind … kurzatmig … Jemanden in sein Leben aufzunehmen, der diese schwere Vergangenheit mit sich herumschleppte – zwölf Jahre stalinscher Lager … Bei seiner Verhaftung war er noch ein

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