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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Menschen sind immer Kinder. Man muss sie beschützen, sie sind zerbrechlich und komisch. Schutzlos. Bei uns beiden war das jedenfalls so; wie es eigentlich sein muss, weiß ich nicht. Mit dem einen ist es so, mit einem anderen anders. Wie man es sich schafft … »Unglück ist der beste Lehrer«, sagte meine Mutter immer. Aber ich träumte vom Glück. Nachts erwachte ich mit dem Gedanken: Was tue ich da? Mir war mulmig zumute, und durch diese Anspannung … »Dein Nacken ist die ganze Zeit verspannt«, bemerkte er. Was tue ich da? Wohin falle ich? Das ist ein Abgrund.
    … Hier, der Brotkorb … Sobald er Brot sah, begann er es systematisch aufzuessen. In beliebiger Menge. Brot durfte nicht übrig bleiben. Die Ration. Er aß und aß – so viel Brot da war, so viel aß er. Ich habe nicht gleich begriffen …
    … Er erzählte auch von der Schule … Im Geschichtsunterricht schlugen sie das Lehrbuch auf und malten auf die Bilder der Marschälle Tuchatschewski und Blücher Gefängnisgitter. Auf Befehl der Schuldirektorin. Dabei wurde gelacht und gesungen. Als wäre das ein Spiel. Nach dem Unterricht wurde er oft verprügelt, und die anderen schrieben mit Kreide auf seinen Rücken: »Sohn eines Volksfeindes«.
    … Ein Schritt zur Seite, und du wirst erschossen – schaffst du es bis zum Wald, zerreißen dich die wilden Tiere. In der Baracke konnten einen nachts die eigenen Leute erstechen. Einfach so abstechen. Ohne Worte … nur so … So ist das Lager, jeder lebt für sich. Das musste ich erst begreifen.
    … Nach der Belagerung Leningrads traf bei ihnen ein Transport mit Blokadniki ein. Skelette … Haut und Knochen … sie sahen kaum aus wie Menschen … Sie waren eingesperrt worden, weil sie die Karten für fünfzig Gramm Brot (die Tagesration) ihrer toten Mutter behalten hatten … oder ihres Kindes. Dafür bekam man sechs Jahre. Zwei Tage lang herrschte im Lager unheimliche Stille. Selbst die Wachsoldaten, selbst die schwiegen …
    … Eine Zeitlang arbeitete er im Kesselhaus … irgendwer hat ihn, den Halbtoten, gerettet. Der Heizer war ein Moskauer Philologie-Professor, und er karrte für ihn das Brennholz heran. Sie stritten: »Kann jemand, der Puschkin zitiert, auf unbewaffnete Menschen schießen? Jemand, der Bach hört?«
    Aber warum gerade er? Ausgerechnet er? Die russische Frau sucht sich mit Vorliebe solche Unglücklichen. Meine Großmutter liebte einen Mann, aber ihre Eltern wollten sie mit einem anderen verheiraten. Er gefiel ihr überhaupt nicht, alles in ihr sträubte sich gegen ihn. Mein Gott! Sie beschloss, wenn der Pope in der Kirche sie fragen würde: Heiratest du aus eigenem Willen?, wollte sie »nein« sagen. Doch der Pope war betrunken, und statt zu fragen, was üblich war, sagte er: »Sei gut zu ihm, er hat sich im Krieg die Füße erfroren.« Tja, da musste sie ihn natürlich heiraten. So bekam meine Großmutter fürs ganze Leben unseren Großvater, den sie nie geliebt hat. Ein bemerkenswerter Leitspruch für unser ganzes Leben: »Sei gut zu ihm, er hat sich im Krieg die Füße erfroren.« War meine Mutter glücklich? Meine Mutter … Vater war auch aus dem Krieg heimgekehrt … 1945 … Gebrochen und erschöpft. Krank von seinen Verwundungen. Die Sieger! Nur ihre Frauen wissen, was es hieß, mit einem Sieger zu leben. Mutter weinte oft, nachdem Vater heimgekehrt war. Die Sieger brauchten Jahre, um ins normale Leben zu finden. Sich daran zu gewöhnen. Ich erinnere mich, wie Vater erzählte, dass er die erste Zeit schier verrückt wurde, wenn jemand sagte, »wir heizen die Banja«, »wir gehen angeln«. Unsere Männer sind Märtyrer, sie alle haben ein Trauma – entweder vom Krieg oder vom Gefängnis. Vom Lager. Krieg und Lager – das sind die beiden Hauptwörter in Russland. Für die Russen! Die russische Frau hatte nie einen normalen Mann. Sie pflegt und heilt … Behandelt ihren Mann ein bisschen wie einen Helden und ein bisschen wie ein Kind. Rettet ihn. Bis heute … Sie hat noch immer dieselbe Rolle. Die Sowjetunion ist zerfallen … Jetzt haben wir Opfer des Zerfalls des Imperiums. Des Zusammenbruchs. Dagegen war selbst mein Gleb nach dem Gulag tapferer. Er hatte seinen Stolz: Ich habe überlebt! Ich habe es ausgehalten! Ich habe schreckliche Dinge gesehen! Aber ich schreibe Bücher … küsse Frauen … Er war stolz. Doch denen heute sitzt die Angst in den Augen. Nichts als Angst …Die Armee baut Stellen ab, Betriebe sind stillgelegt … Ingenieure und Ärzte stehen als Verkäufer

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