Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
bearbeitet Tierfelle) um Gift gebeten. Ich kann das nicht ertragen: Ich werde sterben, und du wirst einen anderen haben … Du bist schön.«
Als er im Sarg lag … Es sah aus, als ob er lachte … Ich hatte Angst, näher heranzugehen. Aber ich musste ihn ja küssen.
(Chor:) »Steh auf, steh auf, du Riesenland! Heraus zur großen Schlacht! Es breche über sie der Zorn wie finstre Flut herein. … Das soll der Krieg des Volkes, der Krieg der Menschheit sein.« 11
»Wir sterben mit einer Kränkung …«
»Ich habe meinen Töchtern gesagt: Wenn ich tot bin, will ich nur Musik haben, die Menschen sollen schweigen.«
»Nach dem Krieg haben deutsche Gefangene bei uns Steine geschleppt. Die Stadt wiederaufgebaut. Sie hungerten, bettelten um Brot. Aber ich konnte ihnen kein Stück Brot geben. Manchmal muss ich daran denken … ausgerechnet daran … Merkwürdig, dass solche Dinge im Gedächtnis bleiben …«
Auf dem Tisch stehen Blumen und ein großes Bild von Timerjan Sinatow. Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, in diesem Chor auch seine Stimme zu hören, als wäre er bei uns.
Sinatows Frau erzählt
Ich kann nur wenig erzählen … Sein Zuhause, seine Familie – das hat ihn nie interessiert. Immer nur die Festung, die Festung. Den Krieg konnte er nicht vergessen … Seinen Kindern brachte er bei, dass Lenin gut sei, dass wir den Kommunismus aufbauten. Eines Tages kam er von der Arbeit nach Hause, eine Zeitung in der Hand: »Wir gehen auf eine Großbaustelle. Die Heimat ruft.« Unsere Kinder waren noch klein. Wir gehen – und Schluss. Die Heimat befiehlt … So kamen wir an die BAM … auf eine Baustelle des Kommunismus … Und wir bauten! Wir glaubten: Wir haben alles noch vor uns! Wir glaubten sehr an die Sowjetmacht. Von ganzem Herzen. Nun sind wir alt. Glasnost, Perestroika … Wir sitzen da und hören Radio. Der Kommunismus ist nicht mehr … Wo ist der Kommunismus geblieben? Auch Kommunisten gibt es keine mehr … schwer zu sagen, wer jetzt am Ruder ist … Gaidar hat uns völlig ausgeplündert … Das Volk ist bettelarm … Der eine stiehlt was im Betrieb oder im Kolchos … Ein anderer betrügt … So hält man sich über Wasser … Aber mein Mann … Der lebte in den Wolken … immer irgendwo hoch oben … Unsere Tochter arbeitet in einer Apotheke, einmal hat sie begehrte Medikamente mit nach Hause gebracht, um sie zu verkaufen und damit ein bisschen was zu verdienen. Woher er das nur wusste? Hat er es gewittert? »Eine Schande! Was für eine Schande!« Er wollte sie aus dem Haus jagen. Ich konnte ihn nicht beruhigen. Andere Veteranen nutzen ihre Privilegien … das steht ihnen zu … »Geh doch mal hin«, hab ich ihn gebeten. »Vielleicht bekommst du ja auch irgendwas.« Da hat er gebrüllt: »Ich habe für die Heimat gekämpft, nicht für Privilegien!« Nachts lag er mit offenen Augen da und schwieg. Wenn ich ihn ansprach, reagierte er nicht. Er redete nicht mehr mit uns. Er hat sich große Sorgen gemacht. Nicht um uns, nicht um seine Familie, nein – um alle. Um das Land. So ein Mensch war er. Ich hatte es schwer mit ihm … Ich gestehe Ihnen offen – Ihnen als Frau, nicht als Schriftstellerin … Ich habe ihn nicht verstanden …
Er hat die Kartoffeln geerntet, seine besten Sachen angezogen und ist in seine Festung gefahren. Wenn er uns wenigstens ein Stück Papier hinterlassen hätte. An den Staat hat er geschrieben, an fremde Menschen. Aber an uns – nichts, kein Wort …
VON SÜSSEN LEIDEN UND DEM FOKUS
DES RUSSISCHEN GEISTES
Geschichte einer Liebe
Olga Karimowa, Musikerin, 49 Jahre alt
Nein … nein, das ist unmöglich … unmöglich für mich. Ich dachte, irgendwann einmal … da werde ich das jemandem erzählen … aber nicht jetzt … Nicht jetzt … Ich halte das alles unter Verschluss, ich habe es eingemauert und verputzt. Ja … Unter einem Sarkophag … ich habe es unter einem Sarkophag begraben … es brennt nicht mehr, aber die chemischen Reaktionen gehen weiter. Lassen Kristalle entstehen. Ich fürchte mich, daran zu rühren … Ich fürchte mich …
Die erste Liebe … Kann man das so nennen? Mein erster Mann … Das ist eine wunderbare Geschichte. Zwei Jahre hat er sich um mich bemüht. Ich wollte ihn unbedingt heiraten, denn ich wollte ihn ganz, so dass er mir nicht weglaufen konnte. Ganz für mich! Ich weiß nicht einmal, warum ich ihn so unbedingt ganz für mich wollte. Sich niemals trennen, sich die ganze Zeit sehen, streiten und vögeln,
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