Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
merkwürdigerweise habe ich nichts an. Ich schwimme ans Ufer. Es ist Nacht oder schon Morgen. Am Ufer stehen Leute, unser ganzes Dorf. Ich steige aus dem Wasser – nackt, vollkommen nackt …
In einem Haus gab es ein Grammophon. Dort versammelte sich die Jugend. Zum Tanzen. Und zum Wahrsagen, welcher Bräutigam einem bestimmt war – zum Wahrsagen nahmen wir den Psalter, Harz … Bohnen … Das Harz musste das Mädchen selbst aus dem Wald holen, unbedingt von einer alten Kiefer, ein junger Baum taugt nicht, der hat noch kein Gedächtnis. Keine Kraft. Das ist wahr … Ich glaube noch heute daran … Die Bohnen wurden auf Haufen geworfen und gezählt – gerade oder ungerade. Ich war achtzehn Jahre alt … Und dann, ja … In den Büchern steht davon nichts … Unter den Deutschen ging es uns besser als unter den Sowjets. Die Deutschen öffneten die Kirchen. Lösten den Kolchos auf und teilten den Boden auf – zwei Hektar pro Person, ein Pferd für je zwei Familien. Sie führten strenge Abgaben ein: Im Herbst lieferten wir Getreide, Erbsen und Kartoffeln ab und einen Eber je Hof. Doch auch für uns blieb genug übrig. Alle waren zufrieden. Unter den Sowjets hatten wir Not gelitten. Der Brigadier hatte in seinem Heft Häkchen gemacht – für die geleisteten Arbeitseinheiten. Im Herbst gab es für diese Arbeitseinheiten so gut wie nichts! Nun aber hatten wir Fleisch und Butter. Ein ganz anderes Leben! Die Leute freuten sich, dass sie nun frei waren. Es herrschte deutsche Ordnung … Wer sein Pferd nicht gefüttert hatte, bekam Schläge mit der Knute. Oder wer vor seinem Hof nicht gekehrt hatte … Ich erinnere mich, was so geredet wurde: Wir haben uns an die Kommunisten gewöhnt, wir werden uns auch an die Deutschen gewöhnen. Wir werden lernen, deutsch zu leben. So war das … In der Erinnerung ist das alles noch lebendig … Nachts hatten wir Angst vor den »Waldleuten«, die kamen ohne Einladung ins Haus. Einmal erschienen sie auch bei uns: Der eine hatte eine Axt, ein anderer eine Heugabel: »Speck her, Mutter. Und Selbstgebrannten. Und mach keinen Lärm.« Ich erzähle Ihnen, wie es wirklich war, nicht, wie es in den Büchern steht. Die Partisanen waren in der ersten Zeit nicht beliebt …
Der Tag der Hochzeit wurde festgesetzt … Nach dem Erntefest. Wenn die Feldarbeiten beendet sind und die Frauen Blumen um die letzte Garbe winden … (Sie schweigt.) Das Gedächtnis lässt nach, aber das Herz erinnert sich an alles … am Nachmittag fing es an zu regnen. Alle rannten vom Feld nach Hause, auch meine Mutter. Sie weinte. »Mein Gott! Mein Gott! Dein Iwan hat sich zur Polizei gemeldet. Du wirst die Frau eines Polizisten sein.« »Nei-i-in!« Wir weinten beide. Am Abend kam Iwan, setzte sich und schaute mich nicht an. »Iwan, mein Lieber, hast du denn nicht an uns gedacht?« »Ljubka … meine Ljubotschka …« Sein Großvater hatte ihn dazu gezwungen. Der alte Teufel! Er hatte gedroht: »Wenn du nicht Polizist wirst, gehst du nach Deutschland. Dann siehst du deine Ljubotschka nie wieder! Vergiss sie!« Der Großvater wünschte sich … Er hätte gern eine Deutsche als Schwiegertochter gehabt … Die Deutschen zeigten Filme über Deutschland, wie schön das Leben dort war. Viele junge Mädchen und Burschen glaubten das. Und gingen fort. Vor ihrer Abreise gab es immer ein Fest. Eine Blaskapelle spielte. In feinen Schuhen stiegen sie in den Zug … (Sie holt Tabletten aus ihrer Handtasche.) Es steht schlecht um mich … Die Ärzte sagen, die Medizin sei machtlos … Ich werde bald sterben … (Sie schweigt.) Ich möchte, dass meine Liebe bleibt. Wenn ich nicht mehr bin, sollen die Menschen wenigstens davon lesen …
Ringsum herrschte Krieg, aber wir waren glücklich. Ein Jahr lebten wir zusammen als Mann und Frau. Ich war schwanger. Ganz in unserer Nähe war die Bahnstation. Oft fuhren deutsche Züge an die Front durch, lauter junge, fröhliche Soldaten. Sie sangen lauthals. Wenn sie mich sahen, riefen sie: »Mädchen! Kleines Mädchen!« Und lachten. Dann wurden es weniger Junge, mehr Ältere. Die Jungen waren alle fröhlich gewesen, die Älteren waren traurig. Die Fröhlichkeit war vorbei. Die sowjetische Armee begann zu siegen. »Iwan«, fragte ich, »was wird aus uns?« »Ich habe kein Blut an den Händen. Ich habe nie auf einen Menschen geschossen.« (Sie schweigt.) Meine Kinder wissen das alles nicht, ich habe es ihnen nie erzählt. Vielleicht, wenn es zu Ende geht … vor meinem Tod … Ich sage nur eines:
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