Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
halbes Kind gewesen, sechzehn Jahre alt. Sein Vater … ein hoher Parteifunktionär … wurde erschossen, seine Mutter in einer Tonne mit kaltem Wasser zu Tode gefoltert. Irgendwo weit weg, im Schnee. Vor ihm hatte ich nie an so etwas gedacht … Ich war Pionier gewesen … Komsomolzin … Das Leben ist schön! Wunderschön! Wieso habe ich das auf mich genommen? Wie? Die Zeit vergeht, und der Schmerz wird zu Wissen. Ja, auch zu Wissen. Fünf Jahre ist er nun schon tot … Fünf Jahre … Es tut mir sogar leid, dass er mich so, wie ich jetzt bin, nicht gekannt hat. Jetzt verstehe ich ihn besser, ich habe mich weiterentwickelt, aber schon ohne ihn. Ich konnte lange nicht allein leben. Ich wollte überhaupt nicht mehr leben. Ich hatte Angst vor der Einsamkeit … Aber der Grund ist ein anderer – ich kann nicht ohne Liebe leben. Ich brauche diesen Schmerz … das Mitleid … Ohne das … Ohne das fürchte ich mich, wie im Meer … Wenn ich ganz weit hinausschwimme: Ich bin allein … und dort unten ist Finsternis. Ich weiß nicht, was dort ist …
Wir sitzen auf der Terrasse. Die Blätter rauschen – es hat angefangen zu regnen.
Ach, diese Strandromanzen … Nicht für die Dauer gedacht. Kurzlebig. Ein kleines Modell des Lebens. Man kann schön anfangen und schön auseinandergehen, etwas, das uns im Leben nicht gelingt, etwas, das wir gerne hätten. Darum verreisen wir so gern … wo wir jemandem begegnen … Ja … Ich hatte zwei Zöpfe und trug ein Kleid mit blauen Punkten, einen Tag vor der Abreise im Kinderkaufhaus erstanden. Das Meer … Ich schwamm ganz weit hinaus, ich schwimme für mein Leben gern. Morgens machte ich unter einer weißen Akazie Gymnastik … Da kommt ein Mann vorbei, einfach ein Mann, äußerlich nichts Besonderes, nicht mehr jung, er sieht mich und freut sich aus irgendeinem Grund. Er bleibt stehen und schaut mir zu. »Wenn Sie mögen, trage ich Ihnen heute Abend Gedichte vor, ja?« »Vielleicht, aber jetzt schwimme ich ganz weit raus!« »Ich werde auf Sie warten.« Und er hat gewartet, mehrere Stunden hat er gewartet. Die Gedichte hat er schlecht rezitiert und dabei dauernd seine Brille zurechtgerückt. Aber er war rührend … Ich verstand … Ich verstand, was er fühlte … Diese Gesten, diese Brille, diese Erregung. Aber ich erinnere mich absolut nicht, was für Gedichte das waren und warum die so bedeutend sein sollten. Damals fing es auch an zu regnen. Es hat geregnet. Daran erinnere ich mich … ich habe nichts vergessen … Die Gefühle … unsere Gefühle, das sind irgendwie eigenständige Wesen – Leiden, Liebe, Zärtlichkeit. Sie führen ein Eigenleben, unabhängig von uns. Aus irgendeinem Grund wählst du plötzlich diesen einen Menschen und nicht jenen, obwohl jener vielleicht sogar besser ist, oder wirst Teil eines fremden Lebens, ohne es zu ahnen. Aber jemand hat dich gefunden … du hast ein Zeichen empfangen … »Ich habe so auf dich gewartet«, empfing er mich am nächsten Morgen. In einem Ton, dass ich ihm in diesem Moment sofort glaubte, obwohl ich gar nicht dazu bereit war. Im Gegenteil. Aber irgendetwas änderte sich … Das war noch keine Liebe … aber ein Gefühl, als hätte ich auf einmal sehr, sehr viel bekommen. Ein Mensch hat einen anderen wahrgenommen. Hat ihn erreicht. Ich schwamm ganz weit hinaus. Kehrte zurück. Er wartete. Und sagte wieder: »Mit uns beiden wird alles gut werden.« Und wieder glaubte ich daran … Am Abend tranken wir Sekt. »Das ist roter Sekt, aber zum Preis von normalem Sekt.« Der Satz gefiel mir. Er briet Eier: »Mit diesen Eiern ist es etwas Merkwürdiges bei mir. Ich kaufe immer zehn Stück und brate je zwei, trotzdem bleibt immer ein Ei übrig.« Solche rührenden Dinge.
Alle schauten uns an und fragten: »Ist das dein Großvater? Ist das dein Vater?« Ich trug ein ganz kurzes Kleid … Ich war achtundzwanzig … Erst später wurde er schön. Bei mir. Mir scheint, ich kenne das Geheimnis … Diese Tür kann nur durch Liebe geöffnet werden … nur durch Liebe … »Ich habe an dich gedacht.« »Wie hast du an mich gedacht?« »Ich habe mir gewünscht, dass wir beide irgendwohin gehen. Ganz weit. Mehr brauche ich nicht, ich muss nur spüren, dass du bei mir bist. So eine Zärtlichkeit empfinde ich für dich – dich einfach nur ansehen und neben dir gehen.« Wir hatten glückliche Stunden zusammen, absolut kindliche Stunden. »Vielleicht ziehen wir beide auf eine Insel, und dann liegen wir dort im Sand.« Glückliche
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