Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
es ruhig.« »Aber hör zu«, sagt meine Anka darauf, »ich habe schon einen Papa, aber der gefällt mir nicht. Und Mama liebt ihn nicht.« So ist es bei uns beiden immer. Wir brechen alle Brücken ab. Auf dem Heimweg war er für sie schon Papa. Sie lief vor uns her und rief: »Papa! Papa!« Am nächsten Tag verkündete sie im Kindergarten: »Mein Papa bringt mir Lesen bei.« »Wer ist denn dein Papa?« »Er heißt Gleb.« Einen Tag später kam ihre Freundin mit einer Neuigkeit von zu Hause: »Anka, du lügst, du hast keinen Papa. Dieser Papa ist nicht dein richtiger Papa.« »Nein, der andere war nicht mein richtiger Papa, dieser ist mein richtiger Papa.« Mit Anka zu streiten ist sinnlos, er wurde »Papa«, und ich? Ich war noch nicht seine Frau …
Ich hatte Urlaub … Und verreiste wieder. Er lief hinter dem Waggon her und winkte mir lange nach. Aber schon im Zug fing ich eine Romanze an. Zwei junge Ingenieure aus Charkow fuhren nach Sotschi, genau wie ich. Mein Gott! Ich war so jung. Meer. Sonne. Wir badeten, küssten uns, tanzten. Alles fühlte sich leicht und einfach an, denn die Welt war einfach, tscha-tscha-tscha-kasatschok und so weiter – ich war in meinem Element. Ich wurde geliebt … ich wurde auf Händen getragen … zwei Stunden wurde ich hinauf in die Berge getragen … Junge Muskeln, junges Lachen. Ein Lagerfeuer bis zum Morgen … Dann hatte ich einen Traum … Die Zimmerdecke öffnet sich. Blauer Himmel … Ich sehe Gleb … Wir beide laufen und laufen … am Meer entlang, doch die Steine am Ufer sind nicht von den Wellen rundgeschliffen, sondern ganz spitz, wie Nägel. Ich habe Schuhe an, doch er ist barfuß. »Barfuß«, erklärt er mir, »spürt man besser.« Aber ich weiß – es tut ihm weh. Und vor Schmerzen erhebt er sich plötzlich … schwebt über der Erde … Ich sehe ihn fliegen … Aber seine Arme sind vor der Brust gekreuzt wie bei einem Toten, sie sehen gar nicht aus wie Flügel … (Sie hält inne.) Mein Gott! Ich bin verrückt … Das sollte ich niemandem gestehen … meistens habe ich das Gefühl, dass ich in diesem Leben glücklich bin. Glücklich! Wenn ich zu ihm auf den Friedhof gehe … Ich weiß, ich gehe zu ihm. Ich spüre, dass er irgendwo hier ist. Und ich empfinde ein so heftiges Glück – ich möchte weinen vor Glück. Weinen. Es heißt, die Toten kämen nicht zu uns. Glauben Sie das nicht.
Mein Urlaub ging zu Ende, ich fuhr nach Hause. Der Ingenieur begleitete mich bis nach Moskau. Ich versprach ihm, Gleb alles zu erzählen … Ich komme nach Hause … Auf seinem Tisch liegt ein Kalender, ganz und gar vollgekritzelt, auch die Tapeten im Arbeitszimmer sind vollgeschrieben, sogar die Zeitungen, die er gelesen hat … überall nur drei Buchstaben: i … e … a … Groß, klein, in Druckschrift, in Schreibschrift. Und drei Punkte … lauter Punkte … Ich frage: »Was ist das?« Er entschlüsselt es: Ist es aus? Tja, wir werden uns trennen, und das müssen wir irgendwie Anka erklären. Wir fuhren sie abholen, doch bevor sie aus dem Haus geht, muss sie immer etwas malen. Diesmal hatte sie es nicht geschafft, sie saß im Auto und heulte. Er war schon daran gewöhnt, dass sie so verrückt war, er meinte, das sei ein Zeichen von Talent. Das war eine übliche Szene in unserer Familie: Anka weint, er tröstet sie, und ich sitze dazwischen … Er schaute mich an, schaute mich so an … Und ich … Das dauerte nur eine Minute … eine Sekunde … Ich begriff: Er ist wahnsinnig einsam. Wahnsinnig einsam! Und … ich werde ihn heiraten … Ich muss … (Sie weint.) Was für ein Glück, dass wir uns nicht verpasst haben. Dass ich nicht an ihm vorbeigegangen bin. Was für ein Glück! Er hat mir ein ganzes Leben geschenkt! (Sie weint.) Also, ich wollte ihn heiraten … Ihm war bange, er hatte Angst, weil er schon zweimal verheiratet war. Die Frauen haben ihn verlassen, sie waren erschöpft … man darf ihnen keine Vorwürfe machen … Liebe ist schwere Arbeit. Für mich ist das in erster Linie Arbeit … Wir heirateten ohne Hochzeitsfeier, ohne weißes Kleid. Ganz bescheiden. Dabei hatte ich immer von einer richtigen Hochzeit geträumt, von einem weißen Kleid und dass ich von einer Brücke einen Strauß weiße Rosen ins Wasser werfen würde. Davon hatte ich geträumt.
Er mochte es nicht, wenn man ihn ausfragte … Er schwadronierte immer irgendwie … erzählte Lustiges, Häftlingsgeschichten, hinter denen er alles Ernste versteckte. Er hatte andere Maßstäbe. Er sagte zum
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