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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Schaum … ich hätte ausrutschen können, auf den Zementboden fallen. Ich rutsche … falle fast … Eine fremde Frau … eine Pflegerin … fängt mich auf und drückt mich an sich: »Hab ich dich, mein Vögelchen.«
    Ich habe Gott gesehen …

VON EINER ZEIT, IN DER JEDER, DER TÖTET,
LAUBT, ER DIENE GOTT
     
Olga Karimowa, Musikerin, 49 Jahre alt
     
     
    Es war Morgen. Ich kniete … Ich kniete und bat: »Herr! Ich bin bereit! Ich will jetzt sterben!« Obwohl Morgen war … und der Tag anbrach …
    So ein starker Wunsch … Sterben! Ich bin ans Meer gegangen. Habe mich in den Sand gesetzt. Mir zugeredet, dass ich keine Angst haben müsse vor dem Tod. Der Tod, das ist Freiheit … Das Meer rauschte, schlug gegen den Strand … und die Nacht brach an, dann wieder ein Morgen. Beim ersten Mal konnte ich mich nicht entschließen. Ich bin herumgelaufen, bin herumgelaufen und habe meine Stimme gehört: »Herr, ich liebe dich! Herr …« Sara bara bsija bsoi … Das ist Abchasisch … Ringsum so viele Farben … Geräusche … Aber ich wollte sterben …
    Ich bin Russin … Ich bin in Abchasien geboren und habe lange dort gelebt. In Suchumi. Bis ich zweiundzwanzig wurde. Bis 1992 … Bis der Krieg begann … Wenn das Wasser brennt, wie kann man es dann löschen? – sagen die Abchasen. So sprechen sie vom Krieg … Alle benutzten dieselben Busse, besuchten dieselben Schulen, lasen die gleichen Bücher, lebten im selben Land, und alle lernten eine Sprache – Russisch. Und nun töten sie einander: der Nachbar den Nachbarn, der Schulkamerad den Schulkameraden. Der Bruder tötet die Schwester! Sie kämpfen gleich hier, vor ihrer Haustür … Wie lange ist das her? Ein Jahr … zwei … Alle lebten wie Brüder … alle waren Komsomolzen und Kommunisten. Ich habe in einem Schulaufsatz geschrieben: »Brüder auf ewig«, »unverbrüchlicher Bund …«.Einen Menschen töten! Das ist kein Heldentum, das ist mehr als ein Verbrechen … Das ist ein Grauen! Ich habe es gesehen … Es ist nicht zu verstehen … Ich verstehe es nicht … Ich will Ihnen von Abchasien erzählen … ich habe es sehr geliebt … (Sie hält inne.) Ich liebe es immer noch, trotzdem. Ich liebe es … In jedem abchasischen Haus hängt ein Dolch an der Wand. Wenn ein Junge geboren wird, schenken die Verwandten ihm einen Dolch und Gold. Neben dem Dolch hängt ein Trinkhorn für Wein an der Wand. Die Abchasen trinken Wein aus einem Horn, man darf das Horn nicht auf den Tisch legen, ehe man es ganz geleert hat. Nach abchasischer Sitte wird die Zeit, die man mit Gästen am Tisch verbringt, nicht auf die Lebenszeit angerechnet, weil der Mensch da Wein trank und Freude hatte. Aber wie zählt die Zeit, wenn man tötet? Auf einen anderen schießt … Ja, wie? Ich denke jetzt viel an den Tod.
    (Sie beginnt zu flüstern.) Beim zweiten Mal … da wich ich nicht mehr zurück … Ich schloss mich im Bad ein … Dann habe ich mir sämtliche Fingernägel bis aufs Blut abgebrochen. Ich habe gekratzt, wollte mich festklammern an der Wand, am Lehm, am Kalk, im letzten Augenblick wollte ich wieder leben. Und der Strick riss … Und nun lebe ich noch, kann mich berühren. Nur … ich kann nicht aufhören, daran zu denken … an den Tod.
    Als ich sechzehn war, starb mein Vater. Seitdem hasse ich Beerdigungen … diese Musik. Ich verstehe nicht – warum spielen die Menschen dieses Theater? Ich saß neben dem Sarg, ich wusste schon damals, dass das nicht mein Vater war, mein Vater war nicht mehr da. Nur ein fremder, kalter Körper … Eine Hülle. Die ganzen neun Tage XXV hatte ich einen Traum … Jemand rief nach mir … rief die ganze Zeit nach mir … Ich wusste nicht: Wohin soll ich gehen? Zu wem? Ich dachte an meine Verwandten … viele von ihnen hatte ich nie gesehen und wusste nicht, wie sie aussahen, sie waren gestorben, bevor ich zur Welt kam. Doch plötzlich sah ich meine Großmutter … Meine Großmutter war schon sehr lange tot, wir besaßen nicht einmal ein Foto von ihr, aber im Traum erkannte ich sie. Dort bei ihnen ist alles anders … Sie sind da und sind auch wieder nicht da, sie sind vollkommen unverhüllt; uns verhüllt unser Körper, doch sie sind völlig ungeschützt. Dann sah ich meinen Vater … Er war noch fröhlich, noch irdisch, mir ganz vertraut. Aber alle anderen dort waren irgendwie … irgendwie so, als würde ich sie kennen, hätte sie aber vergessen. Der Tod ist ein Anfang, der Anfang von etwas … Wir wissen nur nicht, wovon … Ich grüble und

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