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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Gift. Sie rief mich zu sich. »Hab keine Angst …«, und gab mir das Fläschchen … Sie wollte, dass wir uns zusammen vergiften. Ich nahm die Flasche … Rannte damit weg und warf sie in den Ofen. Das Glas zersplitterte … Der Ofen war kalt, darauf wurde schon lange nicht mehr gekocht. Wladja weinte: »Du kommst ganz nach Vater.« Irgendwer hat uns gefunden … Vielleicht ihre Freundinnen? … Wladja war schon bewusstlos … Sie kam ins Krankenhaus, ich ins Kinderheim. Unser Vater … Ich möchte mich an ihn erinnern, aber sosehr ich mich auch bemühe, ich sehe sein Gesicht nicht, sein Gesicht fehlt in meiner Erinnerung. Später habe ich ihn gesehen, als jungen Mann, auf einem Foto bei meiner Tante. Es stimmt … ich sehe ihm ähnlich. Das verbindet uns. Vater hatte ein hübsches Bauernmädchen geheiratet. Aus einer armen Familie. Er wollte eine feine Dame aus ihr machen, aber Mutter trug immer ein Kopftuch, das sie ganz tief in die Stirn zog. Sie war keine feine Dame. In Sibirien blieb Vater nicht lange bei uns … er ging zu einer anderen Frau … Da war ich schon geboren … Ich war eine Strafe! Ein Fluch! Niemand hatte die Kraft, mich zu lieben. Auch Mutter hatte sie nicht. Das ist in meine Zellen einprogrammiert: ihre Verzweiflung, ihre Verletztheit … und der Mangel an Liebe … Ich bekomme nie genug Liebe, selbst wenn ich geliebt werde, glaube ich es nicht, ich brauche ständig neue Beweise. Zeichen. Ich brauche sie jeden Tag. In jedem Augenblick. Es ist schwer, mich zu lieben … das weiß ich … (Sie schweigt lange.) Ich liebe meine Erinnerungen … Ich liebe meine Erinnerungen, weil darin alle am Leben sind. Da sind sie alle bei mir … Mutter … Vater … Wladja … Ich muss immer an einem langen Tisch sitzen. Mit einem weißen Tischtuch. Ich lebe allein, aber in meiner Küche steht ein großer Tisch. Vielleicht sind sie ja alle bei mir … Manchmal bemerke ich an mir eine Geste, die nicht meine ist. Eine Geste von Wladja … oder von Mutter … Dann habe ich das Gefühl, dass sich unsere Hände berühren …
    … Ich bin im Kinderheim … Im Kinderheim der Osadniki -Waisen blieb man bis vierzehn, danach ging es ins Bergwerk. Und mit achtzehn – Tuberkulose … wie Wladja … Das war das Schicksal. Irgendwo weit weg, erzählte Wladja, haben wir ein Zuhause. Aber das ist sehr weit weg … Dort lebte noch Tante Maryla, Mamas Schwester … Eine einfache Bäuerin, Analphabetin. Sie lief herum, bat um Auskunft. Fremde Menschen schrieben Briefe für sie. Ich begreife bis heute nicht … wie? Wie hat sie das geschafft? Ins Kinderheim kam eine Anordnung, uns zu der und der Adresse zu schicken. Nach Weißrussland. Beim ersten Mal kamen wir nicht bis Minsk, in Moskau wurden wir aus dem Zug gesetzt. Wieder das Gleiche: Wladja, sie hatte Fieber bekommen, kam ins Krankenhaus, ich in Quarantäne. Und von dort in ein Durchgangskinderheim. Ein Kellerraum, es roch nach Chlor. Fremde Menschen … Immer unter fremden Menschen … Mein ganzes Leben. Aber die Tante schrieb weiter … sie ließ nicht locker … Nach einem halben Jahr machte sie mich in diesem Heim ausfindig. Wieder hörte ich die Worte »Zuhause«, »Tante« … Ich wurde zu einem Zug gebracht … Ein dunkler Waggon, nur der Gang war beleuchtet. Schatten von Menschen. Eine Erzieherin begleitete mich. Wir fuhren bis Minsk und kauften eine Fahrkarte nach Postawy … ich kannte die Namen aller Orte … Wladja hatte gesagt: »Merk dir das gut. Merk dir: unser Ort heißt Sowtschino.« Von Postawy ging es zu Fuß weiter nach Gridki … ins Dorf der Tante … An einer Brücke machten wir eine Verschnaufpause. Ein Nachbar kam gerade auf dem Fahrrad von der Nachtschicht. Er fragte, wer wir seien. Wir sagten, wir wollten zu Tante Maryla. »Ja«, sagte er, »da seid ihr richtig.« Dann hat er wohl meiner Tante erzählt, dass er uns gesehen hatte … sie kam uns entgegengelaufen … Ich sah sie und sagte: »Die Frau da sieht meiner Mama ähnlich.« Das war’s.
    Ich sitze, den Kopf kahlgeschoren, auf einer langen Bank in der Hütte von Onkel Stach, Mutters Bruder. Die Tür steht offen, und ich sehe Leute kommen, immer mehr Leute … sie bleiben stehen und schauen mich schweigend an … Stehen da wie gemalt! Keiner redet mit dem anderen. Sie stehen da und weinen. Vollkommen still. Das ganze Dorf ist gekommen … Sie schwemmten meinen Tränenstrom weg, jeder von ihnen weinte mit mir. Sie alle kannten meinen Vater, manche hatten bei ihm gearbeitet. Oft sollte ich

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