Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
So etwas höre ich wie durch eine Glasscheibe … Das Einzige, dem ich nachtrauere, ist, dass ich keine kurzen Röcke mehr tragen kann. (Wir lachen beide.)
Die Tante hatte eine außergewöhnliche Stimme … mit einem Vibrato, wie Edith Piaf … Die Leute holten sie zum Singen bei Hochzeiten. Oder wenn jemand gestorben war. Ich war immer dabei … lief neben ihr her … Ich weiß noch … Sie steht vor einem Sarg … lange steht sie da … dann löst sie sich plötzlich von den anderen, geht näher heran. Ganz langsam … sie sieht, dass niemand letzte Worte für den Toten sprechen kann. Die Menschen wollen zwar, aber nicht jeder kann das. Und da fängt sie an: »Ach, Anetschka, wo bist du nur hin … hast den hellen Tag verlassen und die liebe Nacht … wer wird nun über deinen Hof laufen … wer deine Kinder küssen … wer wird da sein, wenn die Kuh abends heimkommt …« Leise, ganz leise spricht sie … Ganz alltäglich, einfach und zugleich erhaben. Traurig. Es liegt eine letzte Wahrheit in diesem Einfachen. Etwas Endgültiges. Ihre Stimme vibriert … Und nach ihr fangen alle an zu weinen. Schon ist vergessen, dass die Kuh nicht gemolken ist, dass der Mann betrunken zu Hause sitzt. Die Gesichter verändern sich, die Hast weicht, die Gesichter fangen an zu leuchten. Alle weinen. Ich geniere mich … und die Tante tut mir leid … Wieder zu Hause, ist sie danach immer ganz krank: »Ach, Manetschka, mir dröhnt der Kopf.« Aber so ein Herz hatte meine Tante … Wenn ich aus der Schule gelaufen kam … Das kleine Fenster … eine Nadel, so lang wie ein Finger … Die Tante flickte unsere Kleider und sang: »Mit Wasser löscht man Feuer, die Liebe löschst du nie!« Diese Erinnerungen sind ein strahlendes Licht …
Von unserem Gut … Von unserem Haus sind nur noch ein paar Steine übrig. Aber ich spüre ihre Wärme, es zieht mich zu ihnen. Ich fahre dorthin wie an ein Grab. Dort kann ich auf freiem Feld schlafen. Ich laufe vorsichtig, wage kaum aufzutreten. Die Menschen sind verschwunden, aber dort ist noch Leben. Geräusche des Lebens … von lebenden Wesen … Ich laufe herum und fürchte, jemandes Haus zu zerstören. Auch ich selbst kann mich überall niederlassen, wie eine Ameise. Mein Zuhause, das ist ein Kult für mich. Da müssen Blumen wachsen … schön soll es sein … Schon im Kinderheim … Ich weiß noch, wie ich im Heim in das Zimmer geführt wurde, in dem ich wohnen sollte. Weiße Betten … Ich schaute mich suchend um: Ist das Bett am Fenster noch frei? Werde ich mein eigenes Nachtschränkchen haben? Ich suchte einen Platz, wo mein Zuhause sein würde.
Und jetzt … Wie viele Stunden sitzen wir schon hier und reden? Inzwischen ist ein Gewitter durchgezogen … die Nachbarin war da … das Telefon hat geklingelt … Das alles hat mich beeinflusst, auf all das habe ich reagiert. Doch auf dem Papier bleiben am Ende nur die Worte … Mehr bleibt nicht: Nicht die Nachbarin, nicht das Telefonklingeln … Überhaupt würde ich das alles morgen vielleicht ganz anders erzählen. Die Worte bleiben zurück, doch ich stehe auf und gehe weiter. Ich habe gelernt, damit zu leben. Ich kann das. Ich gehe immer weiter.
Wer hat mir das beschert? Das alles … Gott oder die Menschen? Wenn es Gott war, dann wusste er wohl, wem er es bescherte. Das Leiden hat mich großgezogen. Das ist meine Kreativität … Mein Gebet. Wie oft schon wollte ich jemandem alles erzählen … Manchmal habe ich angefangen. Aber niemand hat mich je gefragt: »Und weiter … was war weiter?« Ich habe immer gewartet, dass jemand kommt, gute Menschen oder böse, das weiß ich nicht, aber dass jemand kommt. Mein ganzes Leben habe ich gewartet, dass mich jemand findet. Und dass ich ihm das alles erzähle … und er fragt: »Und weiter, was war weiter?« Heute heißt es immer: Der Sozialismus ist schuld … Stalin … Als hätte Stalin so viel Macht gehabt wie Gott. Jeder hatte seinen eigenen Gott. Warum hat er geschwiegen? Meine Tante … unser Dorf … Ich erinnere mich noch an Maria Petrowna Aristowa, eine alte Lehrerin, die unsere Wladja oft im Krankenhaus in Moskau besuchte. Eine fremde Frau … sie war es auch, die Wladja zu uns ins Dorf brachte, auf den Armen hat sie sie zu uns getragen. Wladja konnte damals gar nicht mehr laufen. Maria Petrowna schickte mir später Bleistifte, Süßigkeiten. Schrieb mir Briefe. Auch im Durchgangskinderheim, wo ich gewaschen und desinfiziert wurde … Ich saß auf einer hohen Bank … ganz voller
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