Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
stand ein rauchender Lastwagen … Am Steuer saß der getötete Fahrer … in einem weißen Hemd … Wir das gesehen! Und losgerannt, durch einen Mandarinenhain … Ich ganz voller Mehl … »Lass es fallen! Wirf’s hin!«, bat Mama. »Nein, Mama, das tue ich nicht. Es ist Krieg, und wir haben nichts mehr im Haus.« Diese Bilder … Ein Shiguli kam uns entgegen … Wir winkten, wollten ihn anhalten. Der Wagen fuhr ganz langsam an uns vorbei, wie bei einer Beerdigung. Vorn saßen ein junger Mann und ein Mädchen, hinten lag die Leiche einer Frau. Das war schrecklich … Aber nicht so schrecklich, wie ich früher gedacht hatte … (Sie schweigt.) Ich möchte die ganze Zeit darüber nachdenken. Darüber nachdenken und nachdenken … Direkt am Meer – noch ein Shiguli: die Windschutzscheibe zerbrochen … eine Blutlache … Frauenschuhe liegen herum … (Sie schweigt.) Ich bin natürlich krank … krank … Warum vergesse ich nichts … (Sie schweigt.) Schnell! Bloß schnell nach Hause … an einen vertrauten Ort. Irgendwohin fliehen … Plötzlich ein Dröhnen … Auch dort oben war Krieg! Grüne Militärhubschrauber … Und unten … Ich sah Panzer, sie fuhren nicht in geordneter Formation, sondern einzeln, auf den Panzern saßen Soldaten mit Maschinenpistolen. Georgische Fahnen wehten. Die Kolonne bewegte sich ungeordnet: Manche Panzer bewegten sich schnell voran, andere hielten vor Geschäften an. Die Soldaten sprangen herunter und zerschlugen mit ihren Kolben die Schlösser. Sie nahmen Sekt, Konfekt, Cola und Zigaretten. Hinter den Panzern fuhr ein Ikarus-Bus, voll mit Matratzen und Stühlen. Wozu die Stühle?
Zu Hause rannten wir sofort zum Fernseher … Da spielte ein Sinfonieorchester. Und wo war der Krieg? Im Fernsehen wurde der Krieg nicht gezeigt … Bevor wir zum Basar aufgebrochen waren, hatte ich Tomaten und Gurken zum Einmachen vorbereitet. Die Gläser ausgekocht. Nun waren wir zurück, und ich füllte die Gläser, schraubte sie zu. Ich musste etwas tun, mich irgendwie beschäftigen. Am Abend schauten wir die mexikanische Serie Auch Reiche weinen . Da geht’s um Liebe.
Am anderen Morgen … Ganz früh erwachten wir von einem Dröhnen. Durch unsere Straße fuhren Militärfahrzeuge. Die Leute gingen hinaus und schauten. Ein Auto hielt vor unserem Haus. Darin saßen Russen. Ich begriff: Söldner. Sie riefen meiner Mutter zu: »Mutter, bring uns Wasser.« Mutter brachte ihnen Wasser und Äpfel. Das Wasser tranken sie, aber die Äpfel nahmen sie nicht. Sie sagten: »Gestern wurde einer von uns mit Äpfeln vergiftet.« Auf der Straße traf ich eine Bekannte. »Wie geht es dir? Wo sind deine Leute?« Sie ging an mir vorbei, als würden wir uns nicht kennen. Ich rannte ihr hinterher, packte sie an der Schulter. »Was ist los?« »Hast du noch nichts begriffen? Es ist gefährlich, mit mir zu reden – mein Mann … Mein Mann ist Georgier.« Doch ich … ich hatte nie darüber nachgedacht, was ihr Mann war – Abchase oder Georgier. Was spielte das für eine Rolle! Er war ein wunderbarer Freund. Ich umarmte sie ganz fest! In der Nacht war ihr leiblicher Bruder bei ihr gewesen. Er wollte ihren Mann töten … »Dann töte auch mich«, hat die Schwester zu ihm gesagt. Ich bin mit dem Bruder in eine Klasse gegangen. Wir waren befreundet. Ich fragte mich, wie wir einander jetzt begegnen würden. Was würden wir sagen?
Nach ein paar Tagen begrub unsere ganze Straße Achrik … Achrik … Ein abchasischer Junge. Er war neunzehn Jahre alt. Er war am Abend zu seinem Mädchen gegangen – und mit einem Messer in den Rücken getötet worden. Seine Mutter lief hinter dem Sarg: Sie weinte, dann drehte sie sich plötzlich um – und lachte. Sie hatte den Verstand verloren. Einen Monat zuvor waren wir noch alle sowjetisch gewesen, und nun – Georgier – Abchase … Abchase – Georgier … Russe …
In der Parallelstraße lebte ein anderer Junge … Ich kannte ihn natürlich, nicht beim Namen, aber vom Sehen. Wir grüßten uns immer. Ein ganz normal wirkender Junge. Groß, schön. Er hat seinen alten Lehrer getötet – einen Georgier, er hat ihn getötet, weil der ihn in der Schule in Georgisch unterrichtet hatte. Ihm schlechte Zensuren gegeben hatte. Was ist das? Können Sie das etwa verstehen? In der sowjetischen Schule lernte jeder: Der Mensch ist des Menschen Freund … Freund, Kamerad und Bruder … Meine Mutter, wenn sie so etwas hörte … dann wurden ihre Augen erst ganz klein und dann riesengroß. Gott behüte
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