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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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geglaubt. Die Georgier hatten sich immer über die Abchasen lustig gemacht, und die Abchasen hatten die Georgier nicht gemocht. Ja … Ah! (Sie lacht.) »Kann ein Georgier in den Kosmos fliegen?« »Nein.« »Warum nicht?« »Weil dann alle Georgier vor Stolz sterben würden und alle Abchasen – vor Neid.« »Warum sind die Georgier so klein?« »Die Georgier sind gar nicht so klein, die Berge der Abchasen sind bloß so hoch.« Sie verspotteten einander, aber sie lebten zusammen. Pflegten ihre Weinberge und machten Wein. Der Weinbau ist für die Abchasen so etwas wie eine Religion. Jeder Winzer hat sein eigenes Geheimnis … Der Mai verging … der Juni … Die Strandsaison begann … Die ersten Beeren … Krieg? Mutter und ich dachten nicht an Krieg – wir kochten Kompott und Konfitüre ein. Jeden Samstag fuhren wir auf den Basar. Der abchasische Basar! Die Gerüche dort … die Geräusche … Es riecht nach Weinfässern, nach Maisfladen, nach Schafskäse, nach gerösteten Kastanien. Ein feiner Duft nach Wildpflaumen und Tabak, nach gepressten Tabakblättern. An einigen Ständen hängt Käse … mein geliebter Mazoni … Die Käufer werden auf Abchasisch, auf Georgisch und auf Russisch angelockt. In allen Sprachen: »Wai-wai, mein Süßer. Du musst nichts kaufen, wenn du nicht willst, aber probier doch mal!« Bereits im Juni gab es in der Stadt kein Brot mehr zu kaufen. An einem Samstag beschloss Mutter, sich mit Mehl einzudecken … Wir stiegen in den Bus, neben uns setzte sich eine Bekannte mit ihrem Kind. Das Kind spielte, doch auf einmal fing es an zu weinen, so laut, als hätte es jemand erschreckt. Da fragt unsere Bekannte plötzlich: »Wird da geschossen? Hört ihr das: Sind das Schüsse?« Eine verrückte Frage! Wir erreichen den Basar, und eine Menschenmenge kommt uns entgegen, die Menschen fliehen voller Angst. Große Federn fliegen herum … Kaninchen laufen vor unseren Füßen herum … Enten … Von den Tieren wird nie gesprochen … davon, wie sie leiden … Aber ich erinnere mich an eine verwundete Katze … Und wie ein Hahn schrie, unter seinem Flügel steckte ein Splitter … Nicht wahr, ich bin nicht normal? Ich denke zu viel an den Tod … ich bin nur noch damit beschäftigt … Und dann – ein Schrei! Dieser Schrei … Da schrie kein einzelner Mensch, da schrie eine Menge. Irgendwelche Bewaffneten ohne Uniform, aber mit Maschinenpistolen liefen den Frauen nach, nahmen ihnen die Handtaschen und die Sachen weg: »Gib das her … Zieh das aus …« »Sind das Kriminelle?«, flüsterte meine Mutter mir zu. Wir stiegen aus dem Bus und entdeckten russische Soldaten. »Was ist das hier?«, fragte meine Mutter sie. »Begreifen Sie das denn nicht?«, antwortete ein Leutnant. »Das ist Krieg.« Meine Mutter ist ein großer Angsthase, sie fiel in Ohnmacht. Ich schleppte sie in einen Hof. Aus einer Wohnung brachte uns jemand eine Karaffe mit Wasser … Irgendwo Krachen … Explosionen … »He, Frauen! Frauen! Braucht ihr Mehl?« Da stand ein junger Bursche mit einem Sack Mehl, er trug einen blauen Kittel, wie ihn die Lastträger bei uns anhaben, aber war ganz weiß, mit Mehl bestäubt. Ich lachte, aber Mutter sagte: »Komm, wir nehmen es. Vielleicht ist ja wirklich Krieg.« Wir haben ihm das Mehl abgekauft. Ihm Geld dafür gegeben. Da erst wurde uns klar, dass wir Gestohlenes gekauft hatten. Von einem Plünderer.
    Ich habe unter diesen Menschen gelebt … ich kenne ihre Gewohnheiten, ihre Sprache … Ich liebe sie. Aber wo kamen plötzlich solche Menschen her? So schnell. So unglaublich schnell. Wo kam das her? Woher … wer weiß eine Antwort? Ich nahm mein goldenes Kreuz ab und versteckte es im Mehl, auch das Portemonnaie mit dem Geld versteckte ich. Wie eine alte Oma … ich wusste schon Bescheid … Woher? Das Mehl … zehn Kilo … trug ich bis nach Hause – an die fünf Kilometer. Ich war ganz ruhig … Wäre ich in diesem Moment getötet worden, ich wäre nicht einmal erschrocken … Die Menschen … viele kamen vom Strand … Fremde … Sie waren in Panik und in Tränen aufgelöst. Doch ich war ruhig … Wahrscheinlich stand ich unter Schock? Hätte ich lieber geschrien … geschrien, wie die anderen … Das denke ich heute … An der Bahnlinie blieben wir stehen, um zu verschnaufen. Auf den Gleisen saßen junge Burschen – die einen hatten ein schwarzes Tuch um den Kopf geschlungen, die anderen ein weißes. Und alle waren bewaffnet. Sie lachten und neckten mich noch. Doch ganz in der Nähe

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