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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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grüble. Ich würde mich gern aus dieser Gefangenschaft befreien, mich verkriechen. Noch vor kurzem … Da habe ich morgens vorm Spiegel getanzt: Ich bin schön, ich bin jung! Ich werde Freuden erleben! Ich werde lieben!
    Der Erste … Ein schöner, russischer Junge … Ausnehmend schön! Einer, von dem die Abchasen sagen: »Ein Mann zum Samenspenden.« Er lag da, mit ein wenig Erde bedeckt, in Turnschuhen und Militäruniform. Am nächsten Tag waren die Turnschuhe weg. Da lag er nun, tot … Und weiter, was ist dann? In der Erde? Unter unseren Füßen … unter unseren Sohlen … Dort unten oder – im Himmel … Was ist dort – im Himmel?Ringsum war Sommer, und das Meer lärmte. Und die Zikaden. Meine Mutter hatte mich einkaufen geschickt. Und er war tot. Durch die Straßen fuhren Lastwagen mit Waffen, die Waffen wurden verteilt wie Brot. Ich sah Flüchtlinge, jemand sagte, das seien Flüchtlinge, und ich erinnerte mich wieder an dieses fast vergessene Wort, das ich nur aus Büchern kannte. Es waren viele Flüchtlinge unterwegs: Mit Autos, auf einem Traktor, zu Fuß. (Sie schweigt.) Wollen wir lieber von etwas anderem reden? Zum Beispiel darüber, dass ich gern ins Kino gehe – aber ich mag am liebsten westliche Filme. Warum? Darin erinnert nichts an unser Leben hier. Da kann ich mir alles Mögliche ausmalen … mir etwas zusammenphantasieren … Ein anderes Gesicht anprobieren, denn ich habe mein Gesicht satt. Meinen Körper … sogar meine Hände … Mir missfällt mein Körper, ich bin zu eingeengt in alldem. Ich habe noch immer denselben Körper, immer ein und denselben Körper, dabei bin ich doch verschieden … ich verändere mich … Ich höre mir selbst zu und denke, dass ich das nicht gesagt haben kann, weil ich solche Worte gar nicht kenne und weil ich dumm bin und Brötchen mit Butter mag … Weil ich noch nie geliebt habe. Noch nie ein Kind geboren. Aber ich sage das … Ich weiß nicht, warum. Woher habe ich das? Ein anderer … Ein junger Georgier … Er lag im Park. Dort war an einer Stelle Sand, und er lag im Sand … Er lag da und schaute nach oben …Und niemand brachte ihn weg, lange hat ihn niemand weggeräumt. Ich sah ihn … und wusste, dass ich fliehen muss … Ich muss … Aber wohin? Ich lief in die Kirche … Dort war niemand. Ich kniete nieder und betete für alle. Damals konnte ich noch nicht beten, ich hatte noch nicht gelernt, mit Ihm zu sprechen … (Sie kramt in ihrer Handtasche.) Meine Tabletten … Ich darf das nicht! Ich darf mich nicht aufregen … Nach alldem bin ich krank geworden und wurde zu einem Psychiater geschickt. Ich gehe die Straße entlang … und plötzlich will ich schreien …
    Wo ich gern leben würde? Ich würde gern in der Kindheit leben … Da lebte ich bei meiner Mutter wie in einem Nest.Gott behüte … Gott behüte die Vertrauensseligen und Blinden! In der Schule liebte ich Bücher über den Krieg. Und Filme. Ich stellte mir vor, dort sei es schön. Aufregend … ein aufregendes Leben. Ich bedauerte sogar, dass ich ein Mädchen war und kein Junge: Wenn es Krieg geben sollte, würde man mich nicht nehmen. Jetzt lese ich keine Bücher über den Krieg mehr. Nicht einmal die besten … Die Bücher über den Krieg … sie alle belügen uns. In Wirklichkeit ist Krieg schmutzig und schrecklich. Ein solches Grauen! Heute bin ich nicht mehr sicher – kann man darüber schreiben? Nicht die ganze Wahrheit, nein, aber überhaupt darüber schreiben? Darüber reden … Wie kann man danach glücklich sein? Ich weiß es nicht … ich bin ratlos …Früher – meine Mutter umarmte mich: »Was liest du da, mein Kind?« »Sie kämpften für die Heimat von Scholochow. Über den Krieg …« »Warum liest du diese Bücher? Sie handeln nicht vom Leben, mein Kind. Das Leben, das ist etwas anderes …« Mutter liebte Bücher über die Liebe … Meine Mutter! Ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt oder nicht. (Sie schweigt.) Erst dachte ich, ich könnte dort nicht mehr … könnte in Suchumi nicht mehr leben … Aber ich kann überhaupt nicht mehr leben. Und Bücher über die Liebe retten mich nicht. Aber es gibt die Liebe, ich weiß, dass es sie gibt. Ich weiß es … (Zum ersten Mal lächelt sie.)
    Frühjahr 1992 … Unsere Nachbarn – Wachtang und Gunala, er Georgier, sie Abchasin –, sie hatten ihr Haus und ihre Möbel verkauft und wollten weggehen. Sie kamen sich verabschieden. »Es wird Krieg geben. Geht nach Russland, wenn ihr dort jemanden habt.« Wir haben ihnen nicht

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