Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
später hören: »Im Kolchos kriegen wir nur ›Häkchen‹ angerechnet, aber Antek (mein Vater), der hat uns immer bezahlt.« Und da ist es – mein Erbe. Unser Haus wurde aus unserem Hof ins zentrale Kolchosdorf umgesetzt, bis heute sitzt darin der Dorfsowjet. Ich weiß Bescheid über die Menschen, ich weiß mehr, als mir lieb wäre. Am selben Tag, als die Rotarmisten unsere Familie auf einen Wagen luden und zur Bahnstation schafften, haben genau diese Leute … Tante Elzbeta … Josefa … Onkel Matej … sie haben unser Haus ausgeräumt und alles in ihre Hütten geschleppt. Die kleineren Gebäude haben sie abgerissen. Balken für Balken auseinandergenommen. Sogar den frisch angelegten Garten haben sie ausgegraben. Die kleinen Apfelbäume. Meine Tante kam angerannt … und nahm nur einen Blumentopf vom Fensterbrett mit, als Andenken … Daran will ich mich nicht erinnern. Ich verbanne es aus meinem Gedächtnis. Ich erinnere mich daran, wie das ganze Dorf sich um mich kümmerte, mich auf Händen trug. »Komm zu uns, Manetschka, wir haben Pilze gekocht …« »Komm, trink ein bisschen Milch …« Am Tag nach meiner Ankunft war mein ganzes Gesicht voller Eiterbeulen. Meine Augen brannten. Ich konnte die Lider nicht öffnen. Ich wurde an der Hand zum Waschen geführt. Alles Kranke brach aus mir heraus, wurde ausgebrannt, damit ich die Welt mit anderen Augen sehen konnte. Das war der Übergang von meinem alten Leben zum neuen … Wenn ich jetzt die Straße entlangging, wurde ich dauernd angehalten: »Was für ein Mädchen! Ach, was für ein Mädchen!« Wenn das nicht gewesen wäre, dann hätte ich heute einen Blick wie ein Hund, den man aus einem Eisloch gefischt hat. Ich weiß nicht, wie ich die Menschen dann angesehen hätte …
Meine Tante und mein Onkel lebten in einem Schuppen. Ihr Haus war im Krieg abgebrannt. Sie bauten einen Schuppen, für die erste Zeit, dachten sie, und dann blieben sie darin wohnen. Ein Strohdach, ein einziges kleines Fenster. In einer Ecke die Bulwotschki – so nannte meine Tante die Kartoffeln, nicht »Bulwen«, sondern »Bulwotschki« –, in der anderen quiekte ein Ferkel. Keine Dielen auf dem Fußboden – blanke Erde, mit Schilf und Stroh bedeckt. Bald wurde auch Wladja gebracht. Sie lebte noch eine Weile, dann starb sie. Sie war froh, dass sie zu Hause starb. Ihre letzten Worte waren: »Was wird nun aus Manetschka?«
Doch alles, was ich über die Liebe weiß, habe ich in diesem Schuppen meiner Tante gelernt …
»Mein Vögelchen«, nannte mich die Tante. »Mein Sumselchen … mein Bienchen …« Ich plapperte ununterbrochen auf sie ein, zupfte an ihr herum. Ich konnte es nicht glauben … Ich wurde geliebt! Geliebt! Du wächst heran, und du wirst bewundert – das ist ein solcher Luxus! Da recken sich alle deine Knochen, alle deine Muskeln. Ich steppte und tanzte für sie. Das hatte ich in der Verbannung gelernt … Auch die Lieder von dort sang ich ihr vor … »Auf der Straße bei Tschuisk im Altai, da donnern die Laster vorbei …« und »In fremder Erde werd ich liegen, bitter weint mein Mütterlein, mein Weib wird einen andren finden, doch die Mutter nimmermehr …« … Den ganzen Tag rannte ich so viel herum, dass die Füße abends ganz blau und schrundig waren … Schuhe hatten wir ja keine. Wenn ich dann am Abend schlafen ging, wickelte die Tante meine Füße in den Saum ihres Nachthemds, zum Wärmen. Sie wickelte mich richtig ein. Ich lag an ihrem Bauch … wie im Mutterleib … Darum erinnere ich mich nicht an das Böse … Das Böse habe ich vergessen … es tief in mir vergraben … Morgens erwachte ich von der Stimme der Tante: »Ich habe Puffer gebacken. Komm essen.« »Tante, ich will noch schlafen.« »Iss erst was, danach kannst du weiterschlafen.« Sie wusste, für mich war Essen … Plinsen … das war für mich wie Medizin. Plinsen und Liebe. Onkel Vitalik war Schäfer, er hatte immer eine Peitsche über der Schulter und eine lange Pfeife aus Birkenrinde. Er trug eine Militärjacke und Reithosen. Er brachte uns von der Weide immer seinen »Futtersack« mit – darin waren Käse, ein Stück Speck – alles, was ihm die Frauen so gegeben hatten. Heilige Armut! Sie war für die beiden ohne Bedeutung, sie war nicht verletzend, nicht beleidigend. Das alles ist mir so wichtig … so kostbar … Meine Freundinnen klagen: »Ich kann mir kein neues Auto leisten …« oder: »Mein Leben lang habe ich von einem Nerzmantel geträumt und mir nie einen kaufen können …«
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