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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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die Vertrauensseligen und Blinden! Ich knie stundenlang in der Kirche. Dort ist es still … obwohl dort jetzt oft viele Menschen sind, und alle beten nur um eines … (Sie schweigt.) Glauben Sie, dass es Ihnen gelingt? Hoffen Sie, dass man darüber schreiben kann? Ja, hoffen Sie das? Ja … nun ja … Sie hoffen es … Ich nicht – nein.
    Manchmal wachte ich nachts auf … rief nach meiner Mutter … Auch sie lag mit offenen Augen da. »Ich war nie so glücklich wie im Alter. Und plötzlich ist Krieg.« Männer reden immer vom Krieg, sie lieben Waffen, junge Männer wie alte … Frauen dagegen reden von der Liebe … Alte Frauen erzählen, wie jung und schön sie einmal waren. Nie reden sie vom Krieg … sie beten nur für ihre Männer … Wenn Mutter zu den Nachbarn ging, kam sie jedes Mal erschrocken zurück: »In Gagra haben sie ein ganzes Stadion voller Georgier verbrannt.« »Mama!« »Außerdem habe ich gehört, dass die Georgier Abchasen kastrieren.« »Mama!« »Ein Affenkäfig wurde von einer Bombe getroffen … In der Nacht verfolgten die Georgier jemanden, sie glaubten, es sei ein Abchase. Sie verwundeten ihn, und er schrie. Als die Abchasen auf ihn stießen, glaubten sie, es sei ein Georgier. Sie verfolgten und beschossen ihn. Doch gegen Morgen sahen alle, dass es ein verwundeter Affe war. Und alle – Georgier wie Abchasen – wollten ihn retten und schlossen einen Waffenstillstand. Einen Menschen aber hätten sie getötet …«Ich konnte meiner Mutter nichts entgegenhalten. Ich betete für alle: »Sie laufen herum wie Zombies. Laufen herum und glauben, sie täten Gutes. Aber kann man mit einer Maschinenpistole und einem Messer etwa Gutes tun? Sie gehen in ein Haus, und wenn sie dort niemanden antreffen, schießen sie auf das Vieh, auf die Möbel. Wenn man hinausgeht in die Stadt – da liegt eine Kuh mit durchschossenem Euter … zerschossene Gläser mit Konfitüre … Sie schießen – die einen in die Richtung, die anderen in die andere Richtung. Bring sie zur Vernunft!« (Sie schweigt.) Der Fernseher funktionierte nicht mehr, nur noch der Ton … ohne Bild … Moskau war weit weg.
    Ich ging oft in die Kirche … und dort redete ich … und redete … Jeden, dem ich auf der Straße begegnete, hielt ich an. Später begann ich, mit mir selbst zu reden. Mutter setzte sich neben mich, hörte zu, und plötzlich sah ich – sie schläft, sie war so erschöpft, dass sie unvermittelt einschlief. Sie wäscht Aprikosen – und schläft. Und ich war wie aufgezogen … ich erzählte und erzählte … was ich von anderen gehört … und was ich selbst gesehen hatte … Wie ein Georgier … ein junger Georgier … wie er die Maschinenpistole hinwarf und rief: »Wo sind wir denn hier! Ich bin hergekommen, um für die Heimat zu sterben, und nicht, um fremde Kühlschränke zu stehlen! Warum geht ihr in ein fremdes Haus und nehmt einen fremden Kühlschrank? Ich bin hergekommen, um für Georgien zu sterben …« Andere fassten ihn unter und führten ihn weg, strichen ihm über den Kopf. Ein anderer Georgier ging aufrecht auf diejenigen zu, die auf ihn schossen: »Abchasische Brüder! Ich will euch nicht töten, schießt auch ihr nicht auf mich.« Die eigenen Leute erschossen ihn von hinten. Und ein anderer … Ob er Russe war oder Georgier, weiß ich nicht, er warf sich mit einer Granate vor ein Militärfahrzeug. Er schrie etwas … Niemand hörte, was er schrie. Im Auto verbrannten Abchasen … auch sie schrien … (Sie schweigt.) Mutter … meine Mutter … Mutter hat alle Fensterbretter im Haus mit Blumen vollgestellt. Sie wollte mich retten. Sie sagte zu mir: »Schau auf die Blumen, mein Kind! Schau auf das Meer!« Meine Mutter ist ein einzigartiger Mensch, sie hat ein so gutes Herz … Sie gestand mir: »Manchmal erwache ich ganz früh am Morgen – die Sonne scheint durch die Blätter … Dann denke ich: Ich schaue gleich mal in den Spiegel – wie alt bin ich eigentlich?« Sie litt an Schlaflosigkeit, ihre Beine schmerzten, sie hat dreißig Jahre als Meisterin im Zementwerk gearbeitet, aber am Morgen weiß sie nicht, wie alt sie ist. Dann steht sie auf, putzt sich die Zähne, sieht in den Spiegel – eine alte Frau schaut sie an … Dann macht sie Frühstück und vergisst das wieder. Und ich höre sie singen … ( Sie lächelt.) Meine Mutter … Mein Mama-Mädchen … meine Freundin … Vor kurzem hatte ich einen Traum: Ich verlasse meinen Körper … und schwebe hoch hinauf. Und ich fühle mich so wohl

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