Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
»Geh weg von hier, mein Kind! Geh weg!« Doch ich wollte ins Hospital … Verwundete pflegen … (Sie schweigt.) Ins Flugzeug durfte ich nichts mitnehmen, nur meine Handtasche mit den Papieren. Weder Sachen noch Mutters Piroggen. »Begreifen Sie doch, es herrscht Kriegszustand.« Aber neben mir passierte ein Mann die Zollkontrolle, er war in Zivil, aber die Soldaten sprachen ihn mit »Genosse Major« an und luden seine Koffer ein und große Pappkartons. Kisten mit Wein und Mandarinen. Ich weinte … den ganzen Flug über habe ich geweint … Eine Frau tröstete mich, sie flog mit zwei kleinen Jungen, ihrem eigenen und dem von Nachbarn. Die Jungen waren aufgedunsen vom Hunger … Ich wollte nicht … um keinen Preis wollte ich weggehen … Mutter hat mich von sich losgerissen, mich mit Gewalt ins Flugzeug gestoßen. »Mama, wohin fahre ich?« »Du fährst nach Hause … Nach Russland.«
Moskau! Moskau … Zwei Wochen habe ich auf dem Bahnhof gelebt … Menschen wie ich … wir waren Tausende … Auf allen Moskauer Bahnhöfen – auf dem Weißrussischen, dem Sawjolowoer, dem Kiewer … Ganze Familien, mit Kindern und Alten. Aus Armenien, aus Tadschikistan … aus Baku … Sie kampierten auf Bänken, auf dem Fußboden. Dort kochten sie auch Essen. Wuschen Wäsche. Auf den Toiletten gibt es Steckdosen … und an den Rolltreppen auch … Wasser in eine Schüssel, einen Tauchsieder rein, ein paar Nudeln, Fleisch … Fertig ist die Suppe! Der Grießbrei für die Kinder! Mir scheint, alle Bahnhöfe in Moskau riechen nach Konserven und Reissuppe. Nach Plow. Nach Kinderurin und schmutzigen Windeln. Die trockneten überall auf Heizkörpern, an Fenstern. »Mama, wohin fahre ich?« »Du fährst nach Hause. Nach Russland.« Nun war ich also zu Hause. Zu Hause wurden wir von niemandem erwartet. Von keinem empfangen. Niemand beachtete uns, niemand stellte uns Fragen. Ganz Moskau ist heute ein Bahnhof, ein einziger großer Bahnhof. Eine Karawanserei. Sehr bald war mein Geld alle … Zweimal wurde ich beinahe vergewaltigt, einmal von einem Soldaten, das andere Mal von einem Milizionär. Der Milizionär störte mich mitten in der Nacht auf: »Wo sind deine Papiere?« Er schleifte mich in den Milizraum. Seine Augen waren irre … Ich schrie, und wie! Da bekam er wohl einen Schreck … Er rannte weg. »Dumme Kuh!« Tagsüber lief ich durch die Stadt … stand eine Weile auf dem Roten Platz … Abends ging ich durch Lebensmittelgeschäfte. Ich war sehr hungrig. Einmal hat mir eine Frau eine Pirogge mit Fleisch gekauft. Ich hatte nicht darum gebeten … Sie hatte gegessen, und ich hatte ihr dabei zugeschaut … Da hatte sie Mitleid mit mir. Einmal … Aber dieses eine Mal werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Die Frau war sehr alt. Und arm. Irgendwohin gehen … Hauptsache, nicht auf dem Bahnhof sitzen. Nicht ans Essen denken, an Mutter. Das dauerte zwei Wochen. (Sie weint.) Auf dem Bahnhof konnte man in einem Papierkorb mal ein Stück Brot finden … einen abgenagten Hühnerknochen … So habe ich gelebt, bis Vaters Schwester kam, von der wir lange nichts gehört hatten, wir wussten nicht einmal, ob sie noch lebte. Sie ist schon achtzig. Ich hatte nur eine alte Telefonnummer von ihr. Ich rief jeden Tag dort an … Aber es ging niemand ran, die Tante lag im Krankenhaus. Ich dachte, sie wäre schon tot.
Es geschah – ein Wunder! Ein Wunder! Ich hatte so darauf gehofft … und es geschah … Die Tante kam mich abholen … »Olga … Sie werden im Milizraum von Ihrer Tante aus Woronesch erwartet.« Alle regten sich, kamen in Bewegung … Der ganze Bahnhof: Wer? Wie war der Name? Wir liefen zu zweit hin: Dort war noch ein Mädchen mit dem gleichen Namen, aber mit einem anderen Vornamen. Sie kam aus Duschanbe. Sie hat so geweint, dass es nicht ihre Tante war … dass nicht sie abgeholt wurde …
Jetzt lebe ich in Woronesch … Ich arbeite alles Mögliche, wo man mich gerade nimmt – als Geschirrwäscherin im Restaurant, als Wächter auf einer Baustelle, eine Zeitlang habe ich bei einem Aserbaidschaner Obst verkauft, bis er mich belästigte. Jetzt bin ich Topographin. Natürlich nur aushilfsweise, leider – die Arbeit ist interessant. Mein Diplom von der medizinischen Fachschule ist mir auf dem Moskauer Bahnhof gestohlen worden. Mitsamt allen Fotos von meiner Mutter … Ich gehe mit meiner Tante in die Kirche. Dort knie ich nieder und bitte: »Herr! Ich bin jetzt bereit! Ich will jetzt sterben!« Ich frage Ihn jedes Mal: Lebt meine
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