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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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    Ich weiß nicht mehr, was zuerst war und was danach … Ich erinnere mich nicht … Die ersten Tage trugen die Plünderer Masken … zogen sich schwarze Strümpfe über den Kopf. Doch bald legten sie die Masken ab. Da hat einer in einer Hand eine Kristallvase, in der anderen eine Maschinenpistole, oder auf dem Rücken einen Teppich, und vor der Brust baumelt eine Maschinenpistole. Sie schleppten Fernseher, Waschmaschinen … Damenpelzmäntel … Geschirr … Nichts haben sie verschmäht, sogar Spielzeug holten sie aus den zerstörten Häusern … Holzpferdchen, Plüschteddys … (Sie beginnt zu flüstern.) Wenn ich im Laden ein ganz normales Messer sehe … wird mir bange … Früher habe ich nie an den Tod gedacht. Ich ging zur Schule, dann auf die medizinische Fachschule. Habe studiert und mich verliebt. Wenn ich nachts aufwachte, träumte ich. Wann ist das gewesen? Das ist so lange her … Ich erinnere mich an nichts mehr aus jenem Leben. Ich erinnere mich an anderes … Einem Jungen haben sie die Ohren abgeschnitten, damit er keine abchasischen Lieder hörte. Und einem jungen Mann … na, Sie wissen schon … das … damit seine Frau keine Kinder von ihm bekam … Irgendwo stehen Atomraketen, Flugzeuge und Panzer, aber sie töteten mit dem Messer. Schlitzten einander mit Heugabeln auf, erschlugen einander mit der Axt … Wäre ich doch lieber ganz und gar verrückt geworden … dann würde ich mich an nichts erinnern … Ein Mädchen aus unserer Straße … sie hat sich erhängt … Das Mädchen liebte einen Jungen, doch er hat eine andere geheiratet. Sie wurde in einem weißen Kleid begraben. Niemand konnte es glauben – wie war das möglich … in einer solchen Zeit aus Liebe zu sterben? Ja, wäre sie vergewaltigt worden … Ich erinnere mich an Tante Sonja, Mutters Freundin … Eines Nachts wurden ihre Nachbarn erstochen … ein georgisches Ehepaar, mit dem sie befreundet war. Und zwei kleine Kinder. Tagelang lag Tante Sonja danach mit geschlossenen Augen auf dem Bett und wollte nicht hinausgehen. »Mein Kind, wozu soll ich nach so etwas noch weiterleben?«, hat sie mich gefragt. Ich flößte ihr mit einem Löffel Suppe ein, sie konnte nicht schlucken.
    In der Schule hat man uns dazu erzogen, den Mann mit dem Gewehr zu lieben … Den Verteidiger der Heimat! Aber diese … sie waren anders … Auch dieser Krieg war anders … Sie alle waren Kinder, kleine Jungen mit Maschinenpistolen. Solange sie lebten, machten sie mir Angst, aber wenn sie tot waren, lagen sie so hilflos da – dann taten sie mir leid. Wie ich überlebt habe? Ich … ich … Ich denke gern an meine Mutter. Wie sie sich abends lange die Haare kämmte … »Irgendwann«, versprach sie mir, »erzähle ich dir von der Liebe. Aber so, als wäre das nicht mir widerfahren, sondern einer anderen Frau.« Sie und Vater haben sich geliebt. Es war eine große Liebe. Mutter hatte erst einen anderen Mann, und eines Tages bügelte sie seine Hemden, und er aß zu Abend. Und plötzlich (so etwas brachte nur meine Mutter fertig) sagte sie laut: »Ich werde kein Kind von dir bekommen.« Sie hat ihre Sachen gepackt und ist gegangen. Und dann kam mein Vater … Er lief ihr überall nach, wartete stundenlang auf der Straße, erfror sich im Winter die Ohren. Lief ihr nach und schaute sie an. Und dann hat er sie geküsst …
    Kurz vor dem Krieg ist mein Vater gestorben … An einem Herzschlag. Er hat sich am Abend vor den Fernseher gesetzt – und ist gestorben. Als wäre er einfach weggegangen … »Ja, meine Tochter, wenn du mal groß bist« – mein Vater hatte große Pläne mit mir. (Sie fängt an zu weinen.) Nun war ich allein mit meiner Mutter. Mit meiner Mama, die Angst vor Mäusen hatte … Angst davor, allein im Haus zu schlafen. Vor dem Krieg verkroch sie sich mit dem Kopf unterm Kissen … Wir haben alles Wertvolle verkauft, das wir im Haus hatten: den Fernseher, Vaters goldenes Zigarettenetui, das ihm heilig gewesen war und das wir lange bewahrt hatten, mein goldenes Kreuz. Wir hatten beschlossen, wegzugehen, doch um aus Suchumi wegzukommen, brauchte man Schmiergeld. Für die Militärs und die Miliz, man brauchte viel Geld! Züge fuhren schon nicht mehr. Die letzten Schiffe waren längst weg, die Flüchtlinge drängten sich auf den Decks und in den Laderäumen wie die Heringe. Unser Geld reichte nur für ein Ticket … nur für ein Ticket und nur für eine Tour. Bis Moskau. Ich wollte ohne Mutter nicht weg. Einen Monat lang redete sie auf mich ein:

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