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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Mutter noch oder nicht? Danke … Danke, dass Sie keine Angst vor mir haben. Dass Sie nicht den Blick abwenden wie andere. Dass Sie mir zuhören. Ich habe hier keine Freundinnen, keinen Verehrer. Ich rede … und rede … Wie sie auf der Erde lagen … jung, schön … Die Augen weit offen …
     
    Ein halbes Jahr später bekam ich einen Brief von ihr: »Ich gehe ins Kloster. Ich will leben … Ich werde für alle beten.«
     
     
    XXV Nach dem orthodoxen Glauben verlässt die Seele am 9. Tag den Körper des Verstorbenen, macht einen Prozess der Reinigung durch und steht noch in Kontakt mit den Angehörigen, bis sie am 40. Tag in den Himmel aufsteigt.

 
     
     
    Zweiter Teil
    DER REIZ DER LEERE

AUS STRASSENLÄRM UND KÜCHENGESPRÄCHEN
(2002–2012)
     
Von der Vergangenheit
     
    »Jelzins Neunziger … Wie wir daran zurückdenken? Das war eine glückliche Zeit … Ein verrücktes Jahrzehnt … schreckliche Jahre … eine Zeit schwärmerischer Demokratie … die verheerenden Neunziger … eine schlichtweg goldene Zeit … die Stunde großer Hoffnungen … schlimme und gemeine Zeiten … eine bunte Zeit … eine aggressive … stürmische … das war meine Zeit … das war nicht meine Zeit!«
     
    »Die Neunziger haben wir vergeigt! Eine solche Chance wie damals kriegen wir nicht so bald wieder. Dabei hatte alles so gut angefangen 1991! Nie werde ich die Gesichter der Menschen vergessen, mit denen ich vor dem Weißen Haus stand. Wir haben gesiegt, wir waren stark. Wir wollten leben. Wir genossen die Freiheit. Aber jetzt … jetzt denke ich anders darüber … Wir waren so furchtbar naiv! Mutig, ehrlich und naiv. Wir dachten, Wurst würde aus der Freiheit erwachsen. An allem, was dann geschah, sind auch wir schuld … Verantwortlich dafür ist natürlich Jelzin, aber wir auch …
    Ich denke, angefangen hat alles mit dem Oktober. Mit dem Oktober 1993 … ›Der blutige Oktober‹ … ›der schwarze Oktober‹ … › GKT schP 2‹ – so wird er genannt … Halb Russland stürmte vorwärts, halb Russland strebte zurück. In den grauen Sozialismus. In die verfluchte Sowok. Die Sowjetmacht gab nicht auf. Das ›rote‹ Parlament verweigerte dem Präsidenten den Gehorsam. So habe ich das damals gesehen … Unsere Hauswartfrau, die aus der Gegend von Twer stammt und der meine Frau und ich mehrfach Geld geliehen und der wir alle unsere Möbel geschenkt hatten, als wir unsere Wohnung renovierten, die sagte an jenem Morgen, als das alles begann und sie das Jelzin-Abzeichen an meinem Revers sah, statt ›Guten Morgen!‹ schadenfroh: ›Bald ist es aus mit euch Burshuis‹ und wandte sich ab. Das hatte ich nicht erwartet. Woher dieser Hass auf mich? Weshalb? Es herrschte eine Atmosphäre wie 1991 … Im Fernsehen sah ich: Das Weiße Haus brennt, Schüsse aus Panzern … Leuchtspurgeschosse am Himmel … Das Fernsehzentrum Ostankino wird gestürmt … General Makaschow, ein schwarzes Käppi auf dem Kopf, brüllte unflätig: »Bald gibt es bei uns keinen Maire , keinen Sir und keinen Herr 1 mehr!‹ So viel Hass … Hass … Es roch nach Bürgerkrieg. Nach Blut. Aus dem Weißen Haus rief General Ruzkoi offen zum Krieg auf: ›Piloten! Brüder! Lasst eure Flugzeuge aufsteigen! Bombardiert den Kreml! Dort sitzt eine Bande!‹ Ganz plötzlich war die Stadt voller Militärtechnik. Voller merkwürdiger Männer in Tarnuniformen. Und da rief Jegor Gaidar ›die Moskauer, alle Bürger Russlands, denen Demokratie und Freiheit teuer sind‹, auf, zum Moskauer Stadtsowjet zu kommen. Genau wie 1991 … Wir gingen hin … ich ging hin … Tausende waren dort … Ich erinnere mich, dass ich zusammen mit allen irgendwohin rannte. Ich stolperte. Und fiel auf ein Plakat ›Für ein Russland ohne Burshuis!‹. Ich stellte mir sofort vor, was uns erwartete, wenn General Makaschow siegen würde … Ich sah einen verletzten jungen Mann, er konnte nicht laufen, ich trug ihn. ›Für wen bist du‹, fragte er, ›für Jelzin oder für Makaschow?‹ Er war für Makaschow … Wir waren also Feinde. ›Du kannst mich mal!‹, beschimpfte ich ihn. Was noch? Schnell waren wir wieder in ›Rote‹ und ›Weiße‹ gespalten. Neben einem Krankenwagen lagen Dutzende Verletzte … Sie alle trugen, daran erinnere ich mich merkwürdigerweise genau, geflickte Schuhe, es waren alles einfache Menschen. Arme Menschen. Irgendwer fragte mich dort noch einmal: ›Wen bringst du uns da – gehört er zu uns oder nicht?‹ Diejenigen, die nicht ›zu uns‹ gehörten,

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