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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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herausgeben wollen. Dann werden die Kalaschnikows sprechen …«
     
    »Die einen brüllen ›Russland für Putin!‹, die anderen ›Russland ohne Putin!‹.«
     
    »Und was wird, wenn das Öl billiger wird oder gar nicht mehr gebraucht wird?«
     
    »7. Mai 2012. Im Fernsehen zeigen sie: Putin fährt mit seinem Ehrengeleit zur Amtseinführung im Kreml – durch eine vollkommen leere Stadt. Keine Menschen, keine Autos. Alles beispiellos gesäubert. Tausende Polizisten, Militärs und OMON 5 -Soldaten bewachen Metro-Eingänge und Hauseingänge. Eine von den Moskauern und den endlosen Moskauer Staus gesäuberte Hauptstadt. Eine tote Stadt.
    Der Zar ist eben nicht echt!«
Von der Zukunft
     
    Vor hundertzwanzig Jahren beendete Dostojewski Die Brüder Karamasow . Darin schreibt er über die »russischen Knaben«, die immer »über die großen, weltbewegenden Probleme [diskutieren] und über nichts anderes, sie zerbrechen sich den Kopf darüber, ob es einen Gott und eine Unsterblichkeit gibt. Und diejenigen unter ihnen, die nicht an Gott glauben, die reden halt von Sozialismus und Anarchismus, von der Umgestaltung und Erneuerung der gesamten Menschheit, was auch wieder auf denselben Teufel hinausläuft, alles dieselben Fragen, nur vom anderen Ende her gesehen.« 6
    Das Gespenst der Revolution geht wieder um in Russland. Am 10. Dezember 2011 versammelten sich hunderttausend Menschen auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau. Seitdem hören die Protestaktionen nicht auf. Und worüber reden die »russischen Knaben« heute? Was nehmen sie sich jetzt vor?
     
    »Ich gehe auf Kundgebungen, weil ich es satt habe, dass sie uns für Trottel halten. Gebt uns die Wahlen zurück, ihr Mistkerle! Beim ersten Mal waren hunderttausend auf dem Bolotnaja-Platz, keiner hatte damit gerechnet, dass so viele kommen würden. Die Leute haben geduldet und geduldet, aber irgendwann war es zu viel Lüge und Willkür. Es reicht! Jetzt schauen alle Nachrichten im Fernsehen oder lesen sie im Internet. Alle reden über Politik. In der Opposition zu sein gilt als in. Aber ich habe Angst … Ich habe Angst, dass wir alle nur Schwätzer sind … Dass wir eine Weile auf dem Platz herumstehen, unseren Frust herausschreien und dann an unsere Computer zurückkehren und nur noch im Internet rumhängen. Und dass am Ende nur eines übrig bleibt: »Echt tolle Aktionen, die wir da gemacht haben!« So etwas habe ich schon erlebt: Als Plakate für eine Kundgebung gemalt und Flugblätter ausgetragen werden sollten, waren alle ganz schnell weg …«
     
    »Ich hab mich früher ferngehalten von der Politik. Mir reichten meine Arbeit und meine Familie, ich fand es sinnlos, auf die Straße zu gehen. Ich war mehr für die Theorie der kleinen Dinge: Ich arbeitete in einem Hospiz, und als im Sommer die Wälder um Moskau brannten, brachte ich den Brandopfern Lebensmittel und Sachen. Jeder hat eben andere Erfahrungen gemacht … Meine Mutter saß die ganze Zeit vorm Fernseher. Irgendwann hatte sie genug von all den Lügen und dem Diebsgesindel mit der Tschekisten-Vergangenheit – sie hat mir immer davon erzählt. Zur ersten Kundgebung gingen wir zusammen, dabei ist meine Mutter schon fünfundsiebzig. Sie ist Schauspielerin. Wir haben uns für alle Fälle Blumen gekauft. Sie würden doch wohl nicht auf Leute mit Blumen in der Hand schießen!«
     
    »Ich bin nicht mehr in der UdSSR geboren. Wenn mir was nicht gefällt, gehe ich auf die Straße und protestiere. Und schwatze nicht vorm Schlafengehen davon in der Küche.«
     
    »Ich habe Angst vor einer Revolution … Ich weiß: Das wird der typische russische Aufstand, sinnlos und ohne Erbarmen. Aber zu Hause zu sitzen fände ich auch beschämend. Ich will keine ›neue UdSSR ‹, keine ›erneuerte UdSSR ‹, keine ›wahre UdSSR ‹. So kann man mit mir nicht umgehen, mir einfach sagen: Wir beide haben uns zusammengesetzt und beschlossen, heute ist er Präsident, morgen ich. Die Leute werden das schon fressen. Wir sind kein Vieh, wir sind das Volk. Auf Kundgebungen sehe ich Leute, die ich früher nie dort gesehen habe: kampferprobte Sechziger und Siebziger und viele Studenten, die vor kurzem noch darauf pfiffen, was uns da in der Zombiekiste eingeredet wird … Und Damen im Nerz und junge Männer, die im Mercedes zur Kundgebung kommen. Vor kurzem haben sie sich nur für Geld, Dinge und Komfort interessiert, aber dann festgestellt, dass das nicht reicht. Es ist ihnen zu wenig. Genau wie mir. Nicht die Hungrigen gehen jetzt auf die

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