Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
… Das ganze Dorf hat vor Freude zwei Tage gesoffen. Und Sie reden von Kapitalismus … Bei uns leben sozialistische Menschen im Kapitalismus …«
»Im Sozialismus wurde uns versprochen, jeder würde einen Platz an der Sonne bekommen. Heute heißt es: Wir müssen nach den darwinschen Gesetzen leben, dann wird Überfluss herrschen. Überfluss für die Starken. Aber ich gehöre zu den Schwachen. Ich bin keine Kämpferin … Ich hatte meinen festen Plan, und danach habe ich gelebt: Schule, Studium, Familie. Mein Mann und ich sparten auf eine Genossenschaftswohnung, nach der Wohnung auf ein Auto … Dieser Plan wurde kaputtgemacht. Wir wurden in den Kapitalismus geworfen … Ich bin Ingenieurin, ich habe in einem Projektierungsinstitut gearbeitet, ein ›Fraueninstitut‹, da arbeiteten fast nur Frauen. Man saß da und stapelte den ganzen Tag Papiere, ich mochte diese säuberlichen, ordentlichen Stapel. Ich hätte mein ganzes Leben so verbringen können. Aber dann begannen die Stellenkürzungen … Die Männer blieben davon verschont, das waren ja nur wenige, auch die alleinerziehenden Mütter und diejenigen, die nur noch ein, zwei Jahre bis zur Rente hatten. Als die Listen aushingen, stand darauf auch mein Name … Wie sollte ich weiterleben? Ich war verwirrt. Ich habe nicht gelernt, nach Darwins Gesetzen zu leben.
Lange Zeit hoffte ich noch, Arbeit in meinem Beruf zu finden. Ich war eine Idealistin – in dem Sinne, dass ich meinen Platz im Leben nicht kannte, nicht wusste, was ich wert war. Noch heute vermisse ich die Mädchen aus meiner Abteilung, ja, die Mädchen, unsere Gespräche. Die Arbeit stand bei uns an zweiter Stelle, an erster Stelle stand das intime Gespräch. An die dreimal am Tag tranken wir Tee, und jede erzählte von sich. Wir begingen alle Feiertage zusammen, alle Geburtstage … Und heute … Ich gehe immer wieder aufs Arbeitsamt. Vergeblich. Gesucht werden Maler, Stuckateure … Meine Freundin, wir haben zusammen studiert … die putzt bei einem Geschäftsmann und führt seinen Hund aus … Wie ein Dienstmädchen. Die erste Zeit hat sie vor Demütigung geweint, jetzt hat sie sich daran gewöhnt. Aber ich kann das nicht …«
»Stimmt für die Kommunisten – das ist geil.«
»Ein normaler Mensch kann die Stalinisten nie verstehen. Hundert Jahre Russland für die Katz, und sie tönen: Hoch die sowjetischen Menschenfresser!«
»Die russischen Kommunisten sind längst keine Kommunisten mehr. Das Privateigentum, zu dem sie aufgerufen haben, und die kommunistische Idee sind unvereinbar. Ich kann über sie nur sagen, was Marx über seine Anhänger gesagt hat: ›Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin.‹ Und noch besser hat es Heine ausgedrückt: ›Ich habe Drachen gesät und Flöhe geerntet.‹« 4
»Der Kommunismus ist die Zukunft der Menschheit. Es gibt keine Alternative.«
»Am Tor des Lagers auf den Solowki-Inseln hing die bolschewistische Losung: ›Mit eiserner Hand treiben wir die Menschheit ins Glück.‹ Eines der Rezepte zur Rettung der Menschheit.«
»Ich habe überhaupt keine Lust, auf die Straße zu gehen und irgendetwas zu tun. Lieber gar nichts tun. Weder Gutes noch Schlechtes. Was heute gut ist, könnte morgen schlecht sein.«
»Am schlimmsten sind die Idealisten …«
»Ich liebe meine Heimat, aber ich werde hier nicht mehr leben. Ich kann hier nicht so glücklich sein, wie ich möchte.«
»Vielleicht bin ich dumm … Aber ich will nicht emigrieren, obwohl ich es könnte.«
»Ich gehe auch nicht weg. In Russland ist das Leben lustiger. Diesen Drive gibt es in Europa nicht.«
»Die Heimat liebt man besser aus der Ferne …«
»Man schämt sich heutzutage, Russe zu sein …«
»Unsere Eltern lebten in einem Land der Sieger, wir leben in einem Land, das den Kalten Krieg verloren hat. Darauf können wir nicht gerade stolz sein!«
»Abhauen will ich nicht … Ich hab hier mein Unternehmen. Ich kann nur sagen, dass man in Russland durchaus normal leben kann, man darf sich nur nicht in die Politik einmischen. Alle diese Kundgebungen für die Meinungsfreiheit, gegen Homophobie – die gehen mir am Arsch vorbei …«
»Alle reden von Revolution … Die Rubljowka leert sich langsam … Die Reichen hauen ab, bringen ihr Kapital ins Ausland. Sie verriegeln ihre Paläste, überall hängen Schilder: ›Zu verkaufen‹ … Sie spüren, dass das Volk entschlossen ist. Aber niemand wird freiwillig etwas
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