Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
oft im Gouverneursgarten und im Nagorny-Park spazieren … steige auf die Festungsmauer … Und von überall sieht man das Meer – Schiffe und Bohrtürme … Meine Mutter und ich gingen gern in die Teestube, roten Tee trinken … (Sie hat Tränen in den Augen.) Meine Mutter ist jetzt in Amerika. Sie weint und hat Heimweh. Und ich bin in Moskau …
In Baku wohnten wir in einem großen Haus … Es gab einen großen Hof, da wuchs ein Maulbeerbaum, mit gelben Maulbeeren. Die schmeckten! Wir lebten alle zusammen, wie eine Familie – Aserbaidschaner, Russen, Armenier, Ukrainer, Tataren … Tante Klara, Tante Sara … Abdullah, Ruben … Die Schönste war Silva, sie war Stewardess auf internationalen Fluglinien, sie flog nach Istanbul, ihr Mann Elmir war Taxifahrer. Sie war Armenierin, er Aserbaidschaner, aber das störte niemanden, an Bemerkungen in dieser Richtung kann ich mich nicht erinnern. Wichtig waren andere Kriterien: ob jemand ein guter Mensch war oder ein schlechter, geizigoder großzügig … ein Nachbar oder ein Gast … aus demselben Dorf … derselben Stadt … Alle hatten dieselbe Nationalität – alle waren sowjetisch, alle sprachen russisch.
Der schönste Feiertag, den alle am meisten liebten, war Nowrus. Nowrus Bairam – der Frühlingsbeginn. Auf dieses Fest warteten alle das ganze Jahr, es wurde sieben Tage lang gefeiert. Sieben Tage standen Tore und Türen offen … Tag und Nacht ohne Schlösser und Schlüssel … Überall festliche Feuer … Auf den Dächern und in allen Höfen. In der ganzen Stadt brannten Feuer! Ins Feuer wurde ein duftender Zweig geworfen, dabei bat man um Glück und sagte: » Sarylygin sene, gyrmysylygin mene .« »All mein Unglück dir, meine Freude mir.« » Gyrmysylygin mene …« Jeder wurde überall als Gast empfangen und mit Milchplow und rotem Tee mit Zimt oder Kardamom bewirtet. Und am siebten Tag, dem Haupttag des Festes, versammelten sich alle an einem Tisch … Jeder trug seinen Tisch auf den Hof hinaus, und alle zusammen bildeten eine lange, lange Tafel. Und auf dieser Tafel standen georgische Chinkali, armenische Boraki und Basturma, russische Bliny, tatarische Etschpotschmak, ukrainische Wareniki XXXIV , Fleisch mit Kastanien auf aserbaidschanische Art … Tante Klara brachte ihren berühmten Hering unterm Mantel XXXV … Und Tante Sara gefillte Fisch … Zu trinken gab es Wein, armenischen und aserbaidschanischen Kognak. Armenische und aserbaidschanische Lieder wurden gesungen. Und das russische Katjuscha . »Leuchtend prangten ringsum Apfelblüten … Still vom Fluss zog Nebel übers Land …« 1 Und dann kamen die Süßspeisen: Baklava, Scheker-Tschurek XXXVI … Bis heute mag ich nichts lieber! Die besten Süßspeisen bereitete meine Mutter. »Was hast du für Hände, Knarik! Was für ein leichter Teig!« So lobten die Nachbarinnen sie immer.
Mama war mit Seinab befreundet, und Seinab hatte zwei Töchter und einen Sohn, Anar, mit dem ich in eine Klasse ging. »Wenn du deine Tochter meinem Anar gibst«, meinte Seinab oft lachend, »dann sind wir verwandt.« ( Sie redet sich zu: ) Ich werde nicht weinen … Nein, nicht weinen … Als die Pogrome gegen die Armenier anfingen … Da hat unsere gute Tante Seinab zusammen mit ihrem Sohn Anar … Wir waren geflohen, versteckten uns bei guten Menschen … Da haben sie in der Nacht den Kühlschrank und den Fernseher aus unserem Haus geschleppt … den Gasherd und die nagelneue jugoslawische Schrankwand … Und einmal traf Anar mit seinen Freunden meinen Mann, und sie schlugen ihn mit Eisenstangen. »Du willst ein Aserbaidschaner sein? Du bist ein Verräter! Du lebst mit einer Armenierin zusammen, mit unserem Feind!« Ich wurde von einer Freundin aufgenommen, ich wohnte bei ihr auf dem Dachboden … Jede Nacht öffneten sie die Bodentür, gaben mir zu essen, und dann ging ich wieder hinauf, und die Tür wurde vernagelt. Fest vernagelt. Wenn sie mich gefunden hätten – sie hätten mich getötet! Als ich rauskam, war mein Haar ganz grau … (Ganz leise.) Zu anderen sage ich immer: Ihr müsst meinetwegen nicht weinen … Aber mir selber kommen die Tränen … In der Schulzeit hatte ich Anar gemocht, er war ein hübscher Junge. Einmal haben wir uns sogar geküsst … »Hallo, Königin!«, rief er, wenn er vor dem Tor der Schule auf mich wartete. Hallo, Königin!
Ich erinnere mich an jenen Frühling … natürlich denke ich immer wieder daran, aber jetzt schon seltener … Nicht oft … Frühling! Ich hatte die Lehre
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