Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Straße, sondern die Satten. Die Plakate … die Kreativität des Volkes … ›Putin, geh selber!‹ ›Für diese Schweine habe ich nicht gestimmt, ich habe für andere Schweine gestimmt!‹ Wir wollten nicht den Kreml stürmen, wir wollten nur sagen, wer wir sind. Beim Weggehen haben wir gerufen: ›Wir kommen wieder!‹«
»Ich bin ein Sowjetmensch, ich habe vor allem Angst. Noch vor zehn Jahren wäre ich nie auf die Straße gegangen. Aber heute versäume ich keine Kundgebung. Ich war auf dem Sacharow-Prospekt und auf dem Neuen Arbat. Auch auf dem Weißen Ring. Ich lerne, frei zu sein. Ich möchte nicht als die sterben, die ich bin – so sowjetisch. Ich schütte das Sowjetische eimerweise aus mir heraus …« 7
»Ich gehe auf Kundgebungen, weil mein Mann hingeht …«
»Ich bin nicht mehr jung. Ich möchte noch eine Weile in einem Russland ohne Putin leben.«
»Ich hab die Nase voll von Juden, Tschekisten, Schwulen …«
»Ich bin ein Linker. Ich bin überzeugt: Auf friedlichem Weg erreicht man gar nichts. Ich will Blut! Ohne Blut geht bei uns nichts Großes. Warum wir auf die Straße gehen? Ich warte darauf, wann wir den Kreml stürmen. Das ist kein Spiel mehr. Es ist längst Zeit, den Kreml zu besetzen, statt rumzulaufen und zu brüllen. Befehlt uns, zu Mistgabel und Spitzhacke zu greifen! Ich warte.«
»Ich gehe mit meinen Freunden … Ich bin siebzehn. Was ich über Putin weiß? Ich weiß, dass er Judoka ist, dass er den achten Dan hat. Ich glaube, das ist alles, was ich über ihn weiß …«
»Ich bin kein Che Guevara, ich bin feige, aber ich habe noch keine Kundgebung versäumt. Ich möchte in einem Land leben, für das ich mich nicht schämen muss.«
»Es liegt in meiner Natur, dass ich auf den Barrikaden sein muss. So wurde ich erzogen. Mein Vater ist nach dem Erdbeben in Armenien 8 als freiwilliger Helfer nach Spitak gefahren. Darum ist er früh gestorben. An einem Herzinfarkt. Ich bin nicht mit meinem Vater aufgewachsen, sondern nur mit seinem Foto. Hingehen oder nicht – das muss jeder selbst entscheiden. Mein Vater ist von sich aus hingefahren … er konnte nicht anders … Meine Freundin wollte auch mit mir auf den Bolotnaja-Platz, aber dann rief sie an: ›Verstehst du, ich habe ein kleines Kind.‹ Und ich habe eine alte Mutter. Wenn ich gehe, nimmt sie Validol. Aber ich gehe trotzdem.«
»Ich möchte, dass meine Kinder stolz auf mich sind …«
»Ich brauche das für meine Selbstachtung …«
»Man muss doch versuchen, etwas zu tun …«
»Ich glaube an die Revolution … Revolution, das ist langwierige, beharrliche Arbeit. Die erste russische Revolution endete 1905 mit Niederlage und Zerschlagung. Aber zwölf Jahre später,1917 , da hat es so gekracht, dass das Zarenregime in Scherben flog. Auch wir werden unsere Revolution erleben!«
»Ich gehe zur Kundgebung, und du?«
»Mir für mein Teil hat 1991 gereicht … und 1993 … Ich will keine Revolutionen mehr! Erstens sind Revolutionen selten samten, und zweitens habe ich die Erfahrung gemacht: Selbst wenn wir siegen, wird es enden wie 1991. Die Euphorie wird schnell vorbei sein. Das Schlachtfeld übernehmen die Plünderer. Dann kommen die Gussinskis, die Beresowskis, die Abramowitschs …«
»Ich bin gegen Anti-Putin-Kundgebungen. Die gibt’s doch fast nur in der Hauptstadt. Moskau und Petersburg sind für die Opposition, die Provinz ist für Putin. Geht es uns denn schlecht? Geht es uns nicht besser als früher? Es wäre doch schlimm, das zu verlieren. Jeder weiß noch, wie wir in den Neunzigern gelitten haben. Keiner hat Lust, wieder alles kaputtzuschlagen und mit Blut zu tränken.«
»Ich bin kein Fan des Putin-Regimes. Ich hab die Nase voll von diesem ›kleinen Zaren‹, wir wollen ablösbare Regierende. Natürlich sind Veränderungen nötig, aber keine Revolution. Und Steine auf Polizisten werfen – das gefällt mir auch nicht …«
»Das wird alles von der amerikanischen Regierung bezahlt. Von den Strippenziehern im Westen. Nach ihren Rezepten haben wir die Perestroika gemacht, und was ist dabei rausgekommen? Wir sind in ein solches Loch gefallen! Ich gehe nicht zu diesen Kundgebungen, ich gehe zu den Kundgebungen für Putin! Für ein starkes Russland!«
»In den letzten zwanzig Jahren hat sich das Bild mehrmals vollkommen gewandelt. Und das Ergebnis? ›Putin, tritt ab! Putin, tritt ab!‹ Wie ein Mantra. Ich gehe nicht zu diesen Spektakeln.
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