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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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gern vom Krieg … Mit siebzehn ist sie freiwillig an die Front gegangen, und dort hat sich mein Großvater in sie verliebt. Sie wollte gern Telefonistin werden, aber in ihrer Einheit wurden Köche gebraucht, also wurde sie Köchin. Auch Großvater war Koch, sie bekochten die Verwundeten im Lazarett. Im Fieber schrien die Verwundeten: »Auf! Vorwärts!« Schade – sie hat so viel erzählt, aber ich erinnere mich nur an Bruchstücke … Die Krankenschwestern hatten immer einen Eimer mit Kreide parat; wenn die Tabletten und Pülverchen alle waren, machten sie aus dieser Kreide Pillen, damit die Verwundeten sie nicht beschimpften und sie nicht mit ihren Krücken schlugen … Damals gab es noch keinen Fernseher, niemand hatte Stalin je gesehen, aber alle hätten ihn gern einmal gesehen. Auch meine Großmutter, sie hat ihn bis zu ihrem Tod verehrt: »Ohne Stalin wären wir den Deutschen in den Arsch gekrochen.« Und dann fluchte sie derb. Aber meine Mutter, die mochte Stalin nicht, sie nannte ihn einen »Schurken« und »Mörder« … Ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass ich mir darüber viele Gedanken gemacht hätte … Ich habe das Leben genossen. Die erste Liebe …
    Meine Mutter arbeitete als Disponentin in einem wissenschaftlichen Forschungsinstitut für Geophysik. Wir verstanden uns gut. Ich weihte sie in alle meine Geheimnisse ein, selbst in solche, die man seiner Mutter normalerweise nicht erzählt. Bei meiner Mutter ging das, sie war gar keine richtige Erwachsene. Eher wie eine ältere Schwester. Sie liebte Bücher … und Musik … Das war ihr Leben. Das Sagen hatte bei uns Großmutter … Meine Mutter erzählte oft, als Kind sei ich ein richtiges Goldstück gewesen, sie habe mich nie um etwas bitten, mich nie zu etwas überreden müssen. Ja, ich habe meine Mutter abgöttisch geliebt … Es gefällt mir, dass ich ihr ähnlich sehe, je älter ich werde, desto mehr. Ich sehe fast genauso aus wie sie. Das gefällt mir … (Sie schweigt.) Wir waren im Grunde arm, aber es ging uns gut. Alle um uns herum waren wie wir. Oft war es sogar lustig, wenn Freunde meiner Mutter zu Besuch kamen, wurde viel geredet und gesungen. Ich erinnere mich an ein Lied von Okudshawa: »Er war Soldat, ein Recke fast und seines Standes Zier nur, ein kämpferischer Enthusiast – doch war er aus Papier nur.« 1 Großmutter stellte einen großen Teller voller Plinsen auf den Tisch oder buk wunderbare Piroggen. Viele Männer warben um meine Mutter, sie schenkten ihr Blumen, mir kauften sie Eis, und einmal hat sie mich sogar gefragt: »Hättest du was dagegen, wenn ich heiraten würde?« Ich hatte nichts dagegen, denn meine Mutter war sehr schön, und es gefiel mir nicht, dass sie allein war, ich wünschte mir eine glückliche Mutter. Auf der Straße fiel sie auf, immer wieder drehten sich Männer nach ihr um. »Was haben sie denn?«, fragte ich, als ich noch klein war. »Komm! Komm!«, sagte meine Mutter, und dann lachte sie auf eine ganz besondere Weise. Anders als sonst. Wirklich, es ging uns gut. Später, als ich allein war, ging ich oft wieder in unsere Straße und schaute zu unseren Fenstern hoch. Einmal habe ich es nicht ausgehalten und sogar an unserer Tür geklingelt – dort lebte inzwischen eine georgische Familie. Wahrscheinlich hielten sie mich für eine Bettlerin, sie wollten mir Geld geben und etwas zu essen. Ich fing an zu weinen und rannte weg …
    Bald wurde Großmutter krank, sie hatte eine Krankheit, bei der sie die ganze Zeit essen wollte, alle fünf Minuten, dann lief sie hinaus ins Treppenhaus und schrie, wir würden sie hungern lassen. Sie zerschlug Teller … Meine Mutter hätte sie in einer Spezialklinik unterbringen können, aber sie wollte sie selbst pflegen, auch sie liebte Großmutter sehr. Oft holte sie Großmutters Kriegsfotos aus der Anrichte, schaute sie an und weinte. Auf den Fotos war ein junges Mädchen, das sah gar nicht aus wie Großmutter, aber das war unsere Großmutter. Als wäre sie ein anderer Mensch … So war das … ja … Bis zu ihrem Tod hat Großmutter Zeitung gelesen und sich für Politik interessiert … Aber als sie krank wurde, lag auf ihrem Nachttisch nur ein einziges Buch … Die Bibel … Manchmal rief sie mich zu sich und las mir daraus vor: »Denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott …« 2 Sie dachte ständig an den Tod. »Mir ist schon so schwer ums Herz, mein Kind. So weh.«
    Und dann, an einem freien Tag … wir waren alle

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