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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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wirst nie erfahren, was mit ihr passiert ist.« Bekannte versteckten mich, ich ging ein paar Tage nicht zur Schule. Ich weinte Tag und Nacht, ich hatte Angst um meine Mama. Die Nachbarn haben gesehen, dass die Banditen zweimal kamen und nach mir suchten, mit wilden Flüchen. Am Ende gab meine Mutter auf …
    Am Tag darauf wurden wir aus der Wohnung gesetzt. Sie kamen mitten in der Nacht. »Los, Beeilung! Wir bringen euch erst mal woanders unter, bis wir ein Haus für euch gefunden haben.« Sie hatten schon Farbe und Tapeten dabei, für die Renovierung. »Los! Los!« Meine Mutter nahm vor Schreck nichts weiter mit als die Papiere, ihr polnisches Lieblingsparfüm, das sie zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, und ein paar Lieblingsbücher, und ich meine Schulbücher und ein zweites Kleid. Sie verfrachteten uns in ein Auto … Und brachten uns in eine quasi leere Wohnung – zwei große Betten, ein Tisch und Stühle. Wir wurden streng ermahnt, nicht rauszugehen, die Fenster nicht zu öffnen und nicht laut zu reden. Wehe, die Nachbarn hörten uns! In dieser Wohnung wechselten offenbar dauernd die Bewohner … Sie starrte vor Dreck! Wir haben mehrere Tage lang geputzt und geschrubbt. Dann weiß ich noch: Mama und ich stehen in irgendeinem offiziellen Büro, da zeigt man uns fertig ausgestellte Papiere … Scheinbar alles ganz legal … »Hier müssen Sie unterschreiben.« Mama hat unterschrieben, und ich habe geweint, bis dahin hatte ich nicht recht begriffen, aber nun war mir klar, dass sie uns in ein Dorf verfrachten würden. Ich war traurig wegen meiner Schule und wegen meiner Freundinnen, die ich nun nie mehr wiedersehen würde. Onkel Wolodja sagte: »Unterschreib schnell, sonst bringen wir dich ins Heim, deine Mama zieht so oder so ins Dorf. Dann bist du ganz allein.« Irgendwelche Leute … ich erinnere mich, da standen noch andere Leute, auch ein Milizionär war dabei … Alle schwiegen. Onkel Wolodja gab jedem Geld. Ich war ein Kind … was konnte ich schon tun … (Sie schweigt.)
    Ich habe das lange für mich behalten … Das alles ist sehr persönlich, schlimm, aber sehr persönlich. Etwas, wovon ich niemandem erzählen möchte … Ich erinnere mich, wie ich ins Heim gebracht wurde – das war viel später, als meine Mutter nicht mehr da war. Sie führten mich in ein Zimmer und sagten: »Hier ist dein Bett. Das sind deine Fächer im Schrank …« Ich war wie erstarrt … Am Abend bekam ich hohes Fieber … Das alles erinnerte mich an unsere Wohnung … (Sie schweigt.) Es war kurz vor Silvester … Ein Tannenbaum mit brennenden Lichtern … Alle bastelten Masken … Für den Tanzabend … Tanz? Was war das? Ich hatte alles vergessen … (Sie schweigt.) Außer mir wohnten in dem Zimmer noch vier Mädchen: zwei kleine, Schwestern von acht und zehn, und zwei ältere, eine Moskauerin, die schwer an Syphilis erkrankt war, und eine andere, die sich als Diebin erwies, sie klaute mir ein Paar Schuhe. Dieses Mädchen wollte wieder zurück auf die Straße … Wovon wollte ich gerade erzählen? Ach ja, wir waren immer zusammen, Tag und Nacht, erzählten einander aber nichts … Nein, das wollten wir nicht. Ich habe lange geschwiegen … Ich fing erst an zu reden, als ich Shenka kennengelernt hatte … Aber das war viel später … (Sie schweigt.)
    Unsere Odyssee, die von Mama und mir, fing gerade erst an … Nachdem wir die Papiere unterschrieben hatten, wurden wir ins Gebiet Jaroslawl gebracht. »Ist zwar weit weg, aber dafür bekommt ihr ein schönes Haus.« Das war gelogen … Es war kein Haus, sondern eine alte Hütte mit einem einzigen Zimmer und einem großen russischen Ofen – so etwas hatten meine Mutter und ich noch nie im Leben gesehen. Wir hatten keine Ahnung, wie man den heizte. Die Hütte war eine Bruchbude, es zog durch alle Ritzen. Meine Mutter war schockiert. In der Hütte fiel sie vor mir auf die Knie und bat mich um Verzeihung dafür, dass sie mir dieses Leben zumutete. Sie schlug mehrmals ihren Kopf gegen die Wand … (Sie weint.) Wir hatten etwas Geld, aber das war rasch alle. Wir arbeiteten bei Leuten im Garten, dafür bekamen wir mal einen Korb Kartoffeln, mal ein Dutzend Eier. Ich lernte das schöne Wort »Bartergeschäft« … Mama tauschte ihr Lieblingsparfüm gegen ein gutes Stück Butter, als ich stark erkältet war … Ich war sehr dagegen gewesen, denn wir besaßen nur wenige Dinge, die uns an zu Hause erinnerten. Das weiß ich noch … Einmal schenkte mir die Leiterin der Milchfarm, eine

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