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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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aus Baku sind nach Amerika ausgewandert … Ein fremdes Land hat sie aufgenommen … Auch meine Mutter ist weggegangen und mein Vater und viele unserer Verwandten. Ich bin auch in die amerikanische Botschaft gegangen … »Erzählen Sie uns Ihre Geschichte«, wurde ich gebeten. Ich habe ihnen von meiner Liebe erzählt … Sie haben geschwiegen, lange haben sie geschwiegen. Junge Amerikaner, blutjung. Dann haben sie miteinander geredet: An ihrem Ausweis wurde manipuliert, und es ist doch irgendwie seltsam – wieso ist ihr Mann sieben Jahre lang weggeblieben? Ist er wirklich ihr Mann? Ihre Geschichte ist zu schön und zu schrecklich, um wahr zu sein. So haben sie geredet. Ich kann ein wenig Englisch … Ich habe verstanden, dass sie mir nicht glaubten. Aber ich habe keine anderen Beweise als den, dass ich liebe … Glauben Sie mir?
    »Ich glaube Ihnen«, sage ich. »Ich bin im selben Land aufgewachsen wie Sie. Ich glaube Ihnen!« (Wir weinen beide.)
     
     
    XXXIV C hinkali – gefüllte Teigtaschen. Boraki – gefüllte Teigtaschen. Basturma – Rinderdörrfleisch. Bliny – Hefeplinsen. Etschpotschmak – Hefeteigtaschen mit Fleisch oder Kartoffeln und Zwiebeln Wareniki – Nudelteigtaschen mit herzhafter oder süßer Füllung, meist Kirschen.
     
    XXXV Hering unterm Mantel – ein Schichtsalat aus Kartoffeln, roten Rüben, Salzhering und Mayonnaise.
     
    XXXVI S cheker-Tschurek – kleines Hefegebäck.
     
    XXXVII Tschutschmek – russisches Schimpfwort für Menschen aus dem Kaukasus und aus Zentralasien.

VON MENSCHEN, DIE »NACH DEM KOMMUNISMUS«
SOFORT ANDERE WURDEN
     
Ljudmila Malikowa, Technologin, 47 Jahre alt
     
Aus den Erzählungen der Tochter
     
Von einer Zeit, in der alle gleich lebten
     
    Kennen Sie Moskau gut? In Kunzewo … Da haben wir gewohnt, in einem Fünfgeschosser, wir hatten eine Dreizimmerwohnung, seit wir mit meiner Großmutter zusammengezogen waren. Nach Großvaters Tod hatte sie lange allein gelebt, aber sie wurde immer schwächer, und darum zogen wir mit ihr zusammen. Ich freute mich, ich liebte meine Großmutter. Wir beide sind Ski gelaufen und haben Schach gespielt. Sie war eine tolle Großmutter! Mein Vater … Ich hatte einen Vater, aber er lebte nicht lange bei uns, er fing an, Dummheiten zu machen, trank viel mit seinen Kumpels, und Mutter bat ihn auszuziehen … Er arbeitete in einem geheimen Rüstungsbetrieb … Als ich noch ein Kind war, besuchte er uns an freien Tagen und brachte mir jedes Mal etwas mit, Konfekt oder Obst – die größte Birne, die er finden konnte, den größten Apfel. Er wollte mich überraschen: »Mach die Augen zu, Juletschka – hier!« Er hatte so ein schönes Lachen … Und dann verschwand er irgendwie … Die Frau, mit der er zusammenlebte, seit er von uns weg war – sie war Mamas Freundin –, die hat ihn auch rausgeworfen, sie hatte seine Besäufnisse satt. Ich weiß nicht, ob er noch lebt, aber wenn er noch lebte, hätte er doch nach mir gesucht …
    Bis ich vierzehn wurde, haben wir ein sorgloses Leben geführt. Bis zur Perestroika … Es ging uns gut, bis der Kapitalismus begann, im Fernsehen redeten sie damals von »Marktwirtschaft«. Keiner wusste so recht, was das war, und niemand hat es erklärt. Es begann damit, dass man auf einmal auf Lenin und Stalin schimpfen durfte. Das taten vor allem die jungen Leute; die Alten schwiegen, sie stiegen aus dem Bus aus, wenn sie hörten, dass jemand auf die Kommunisten schimpfte. Bei uns in der Schule war der junge Mathematiklehrer gegen die Kommunisten, und der alte Geschichtslehrer war für die Kommunisten. Zu Hause sagte meine Großmutter: »Anstelle der Kommunisten kommen jetzt die Spekulanten.« Meine Mutter stritt mit ihr: Nein, jetzt kommt ein schönes, gerechtes Leben. Sie ging zu Demonstrationen und erzählte uns begeistert die Reden von Jelzin nach. Doch Großmutter war nicht zu überzeugen, sie sagte: »Sie haben den Sozialismus für Bananen aufgegeben. Für Kaugummi …« Der Streit begann schon am Morgen, dann ging meine Mutter zur Arbeit, und am Abend stritten sie weiter. Wenn Jelzin im Fernsehen kam, setzte sich Mutter schnell in ihren Sessel. »Ein großer Mann!« Großmutter dagegen bekreuzigte sich: »Ein Verbrecher, Gott verzeih mir.« Sie war Kommunistin bis ins Mark. Sie hat für Sjuganow gestimmt. Plötzlich gingen ja alle in die Kirche, auch Großmutter, sie bekreuzigte sich und hielt die Fasten ein, aber geglaubt hat sie nur an den Kommunismus … (Sie schweigt.) Sie erzählte mir

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