Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
zu Hause … Ich schaute in Großmutters Zimmer, sie konnte schon nicht mehr gut laufen, sie lag meist im Bett, doch nun saß sie da und schaute aus dem Fenster. Ich gab ihr Wasser zu trinken. Nach einer Weile … Da ging ich wieder zu ihr hinein, sprach sie an, doch sie reagierte nicht, ich nahm ihre Hand, die war schon ganz kalt, aber ihre Augen waren offen und schauten noch immer aus dem Fenster. Bis dahin hatte ich den Tod noch nie gesehen, ich erschrak und fing an zu schreien. Meine Mutter kam angelaufen, sie fing sofort an zu weinen und schloss Großmutter die Augen. Wir mussten einen Krankenwagen rufen … Sie kamen zwar schnell, aber die Ärztin verlangte von meiner Mutter Geld für den Totenschein und für den Transport ins Leichenschauhaus. »Was wollen Sie? Wir haben Marktwirtschaft!« Wir hatten kein Geld im Haus, gar nichts … Meine Mutter hatte gerade ihre Stelle verloren, sie war schon seit zwei Monaten auf Arbeitssuche, meldete sich auf Anzeigen, doch überall standen die Leute schon Schlange. Meine Mutter hat ihr Ingenieurstudium mit Auszeichnung absolviert. Aber eine Stelle in ihrem Beruf zu finden war ausgeschlossen, Leute mit Hochschuldiplom arbeiteten als Verkäufer und Tellerwäscher. Als Putzkräfte in Büros. Alles war auf einmal anders … Ich erkannte die Menschen auf der Straße nicht wieder, es war, als wären plötzlich alle grau gekleidet. Ohne jeden Farbtupfer. So habe ich es in Erinnerung … »An allem ist dein Jelzin schuld … dein Gaidar …«, klagte Großmutter, als sie noch lebte. »Was haben sie uns nur angetan? Es ist schon fast wie im Krieg.« Meine Mutter schwieg dazu, ja, zu meinem Erstaunen schwieg meine Mutter. Alles, was wir im Haus hatten, beurteilten wir nur noch so: Kann man das verkaufen? Wir hatten nichts zu verkaufen … Großmutter hat in ihrem ganzen Leben fünftausend Rubel zusammengespart, die lagen auf einem Sparbuch, sie waren, wie sie sagte, »für einen schwarzen Tag« bestimmt und für die Beerdigung. Aber nun bekam man dafür nur noch einen Straßenbahnfahrschein … Eine Schachtel Streichhölzer … Von einem Tag zum anderen war das Geld futsch, bei allen. Das Volk war ausgeplündert worden … Am meisten Angst hatte Großmutter davor, dass wir sie in einer Plastiktüte begraben würden oder eingewickelt in Zeitungspapier. Särge waren irrsinnig teuer, und die Leute begruben ihre Toten auf verschiedene Weise … Großmutters Freundin, Tante Fenja, sie war im Krieg Krankenschwester an der Front gewesen, die wurde von ihrer Tochter in Zeitungspapier begraben … in alte Zeitungen eingewickelt … Ihre Medaillen wurden einfach so in die Grube gelegt … Ihre Tochter, sie ist behindert, die wühlte in Mülltonnen nach Essbarem … Das war alles so ungerecht! Ich ging manchmal mit meinen Freundinnen in einen nichtstaatlichen Laden, dort schauten wir uns die Würste an. Die glänzenden Verpackungen. In der Schule machten sich die Mädchen, die Leggins hatten, über diejenigen lustig, denen die Eltern keine Leggins kaufen konnten. Ich wurde verspottet … (Sie schweigt.) Aber meine Mutter hatte Großmutter versprochen, sie in einem Sarg zu begraben. Das hatte sie ihr geschworen.
Als die Ärztin sah, dass wir kein Geld hatten, fuhren sie einfach wieder weg. Großmutter ließen sie bei uns …
Eine Woche lang lebten wir mit der toten Großmutter in der Wohnung … Meine Mutter rieb sie mehrmals am Tag mit Kaliumpermanganat ab und bedeckte sie mit einem nassen Laken. Sie hat alle Fenster abgedichtet und eine nasse Decke vor den Türspalt gestopft. Das alles hat sie allein gemacht, ich traute mich nicht in Großmutters Zimmer, ich lief nur schnell durch zur Küche und zurück. Dieser Geruch … ja, es roch schon … Allerdings, so schlimm das klingt, hatten wir noch Glück: Während ihrer Krankheit hatte Großmutter stark abgenommen, sie war nur noch Haut und Knochen … Wir telefonierten unsere Verwandten ab … Das sind viele, wir sind mit halb Moskau verwandt, aber keiner konnte helfen; das heißt, sie brachten uns Dreilitergläser mit eingemachten Zucchini, mit Gurken und Konfitüre, aber eben kein Geld. Sie saßen eine Weile bei uns, weinten und gingen wieder. Keiner hatte Bargeld. Ja, ich glaube, so war es … Der Cousin meiner Mutter zum Beispiel bekam seinen Lohn im Betrieb in Konserven, also brachte er uns Konserven. Was er eben konnte … Damals war es ganz normal, zum Geburtstag ein Stück Seife zu schenken oder Zahnpasta … Wir hatten liebe
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