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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Nachbarn, wirklich, das waren gute Menschen. Tante Anja und ihr Mann … Doch sie packten gerade ihre Sachen, sie wollten zu ihren Eltern aufs Land ziehen, die Kinder hatten sie schon dorthin geschickt – ihnen stand der Sinn nicht nach uns. Tante Valja … Wie hätte sie uns helfen können, wo doch ihr Mann trank und ihr Sohn auch? Meine Mutter hatte viele Freunde … Aber auch sie besaßen nichts als Bücher. Die Hälfte von ihnen war inzwischen schon arbeitslos … Das Telefon blieb stumm. Die Menschen wurden nach dem Kommunismus sofort andere. Plötzlich lebten alle hinter verschlossenen Türen … (Sie schweigt.) Ich wünschte mir, ich würde einschlafen, und wenn ich aufwachte, wäre Großmutter wieder lebendig.
Von einer Zeit, da Banditen auf der Straße herumliefen  
 und ihre Pistolen nicht einmal versteckten
     
    Wer waren diese Leute? Sie tauchten plötzlich auf und wussten alles. »Wir wissen Bescheid über Ihr Unglück. Wir werden Ihnen helfen.« Sie riefen irgendwo an, sofort kam ein Arzt und stellte einen Totenschein aus, und auch ein Milizionär erschien. Sie kauften einen teuren Sarg, bestellten einen Leichenwagen, besorgten viele Blumen, Blumen über Blumen – alles, wie es sich gehört. Großmutter wollte gern auf dem Chowanskoje-Friedhof begraben werden, das ist ein berühmter alter Friedhof, ohne Bestechung kriegt man da keinen Platz, aber auch für den sorgten sie und für einen Priester, der ein Gebet sprach. Alles war sehr schön. Meine Mutter und ich haben nur dagestanden und geheult. Organisiert hat das alles Tante Ira, sie war die Anführerin, sie wurde immer von muskelbepackten Männern begleitet, das waren ihre Bodyguards. Einer davon war Soldat in Afghanistan gewesen, und das hat meine Mutter irgendwie beruhigt, sie meinte, wer im Krieg war oder wer unter Stalin im Lager gesessen hat, der könne kein schlechter Mensch sein: »Nach all dem, was er durchgemacht hat!« Überhaupt war sie überzeugt, dass bei uns in der Not niemand im Stich gelassen wird – wir erinnerten uns an Großmutters Erzählungen darüber, wie die Menschen im Krieg einander halfen. Sowjetische Menschen … (Sie schweigt.) Aber die Menschen waren inzwischen andere. Nicht mehr ganz sowjetisch … So sehe ich das heute, damals … Wir waren in die Fänge einer Bande geraten, aber damals waren das für mich Onkel und Tanten – sie saßen in unserer Küche, tranken Tee mit uns, schenkten uns Konfekt. Tante Ira brachte Lebensmittel mit, nachdem sie unseren vollkommen leeren Kühlschrank gesehen hatte, und schenkte mir einen Jeansrock – damals waren alle verrückt nach Jeans! Etwa einen Monat lang kamen sie immer wieder, wir gewöhnten uns an sie, und dann machten sie meiner Mutter einen Vorschlag: »Was halten Sie davon, wenn wir Ihre Dreizimmerwohnung verkaufen und Ihnen eine Einzimmerwohnung kaufen? Dann hätten Sie Geld.« Mutter war einverstanden … Sie hatte damals schon Arbeit in einem Café, sie spülte das Geschirr und wischte die Tische ab, aber das Geld langte vorn und hinten nicht. Wir redeten bereits darüber, wohin wir ziehen sollten, in welchen Stadtbezirk. Ich wollte die Schule nicht wechseln. Wir suchten etwas in der Nähe.
    Da tauchte eine andere Bande auf. Ihr Anführer war ein Mann … Onkel Wolodja … Er und Tante Ira führten Krieg um unsere Wohnung. »Was wollt ihr mit einer Einzimmerwohnung?«, schrie Onkel Wolodja meine Mutter an. »Ich kaufe euch ein Haus in der Nähe von Moskau.« Tante Ira kam immer mit einem alten VW, Onkel Wolodja fuhr einen schicken Mercedes. Er hatte eine echte Pistole … So waren die neunziger Jahre … Die Banditen liefen offen mit ihren Pistolen herum. Jeder, der konnte, ließ sich Stahltüren einbauen. Zu einem Nachbarn in unserem Haus kamen eines Nachts Leute mit einer Handgranate … Der Mann besaß einen Kiosk, ein paar gestrichene Bretter und Sperrholz, und dort verkaufte er alles Mögliche: Lebensmittel, Kosmetik, Kleidung und Wodka. Sie verlangten Dollar von ihm. Seine Frau wollte nichts rausrücken, da stellten sie ihr ein heißes Bügeleisen auf den Bauch – sie war schwanger … Niemand wandte sich an die Miliz, denn jeder wusste: Die Banditen haben viel Geld, die können jeden kaufen. Die Leute hatten sogar Respekt vor ihnen. Man konnte sich bei niemandem beschweren … Onkel Wolodja trank keinen Tee mit uns, er drohte meiner Mutter offen: »Wenn du mir die Wohnung nicht überlässt, schnappe ich mir deine Tochter, und du siehst sie nie wieder. Du

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