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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Juden getötet hat, weil sie Juden waren«, sagte er. Er war schon sehr, sehr alt. Wir gaben unserer Tochter den Namen Ira … Wir entschieden: Sie soll einen russischen Namen haben, der schützt sie. Als Abulfas das Baby das erste Mal auf den Arm nahm, fing er an zu weinen. Er schluchzte … Vor Glück … das gab es damals auch – Glück. Unser Glück! Zu der Zeit wurde seine Mutter krank … Er ging nun oft zu seinen Verwandten. Wenn er zurückkam … ich kann gar nicht sagen … wie er von dort zurückkam. Als Fremder, mit fremdem Gesicht. Ich erschrak natürlich. Die Stadt war bereits voller Flüchtlinge – aserbaidschanische Familien, die aus Armenien geflohen waren. Sie flohen mit leeren Händen, ohne alles, genau wie die Armenier aus Baku. Und sie erzählten genau das Gleiche. Ach! Ach, ganz genau das Gleiche. Von Chodschali, wo es einen Pogrom gegen die Aserbaidschaner gegeben hatte … Wie die Armenier dort die Aserbaidschaner getötet hatten – sie haben Frauen aus dem Fenster geworfen … Köpfe abgeschnitten … auf Tote uriniert … Mich kann kein Horrorfilm mehr schrecken! Ich habe so viel gesehen und gehört … so viel! Ich konnte nächtelang nicht schlafen, ich überlegte hin und her – wir müssen weg. Wir müssen weg! Nein, so geht es nicht weiter, ich kann nicht mehr. Fliehen … fliehen, um zu vergessen. Hätte ich ausgeharrt, wäre ich gestorben … das weiß ich, ich wäre gestorben …
    Meine Mutter ging als Erste weg … Dann Vater mit seiner zweiten Familie. Danach ich mit der Tochter. Mit gefälschten Papieren … in den Ausweisen standen aserbaidschanische Namen … Drei Monate lang bekamen wir keine Tickets. Solche Schlangen standen an den Schaltern! Doch als ich ins Flugzeug stieg, sah ich: Die halbe Kabine war voller Pappkartons mit Blumen – die nahmen mehr Platz ein als die Passagiere. Geschäfte! Die Geschäfte blühten! Vor uns saßen zwei junge Aserbaidschaner, die tranken die ganze Zeit Wein und sagten, sie gingen weg, weil sie nicht töten wollten. Sie wollten nicht in den Krieg ziehen und sterben. Das war 1991 … Der Krieg in Bergkarabach war in vollem Gange … Diese jungen Männer bekannten offen: »Wir wollen uns nicht vor einen Panzer werfen. Dazu sind wir nicht bereit.« In Moskau holte uns mein Cousin ab. »Und wo ist Abulfas?« »Er kommt in einem Monat nach.« Am Abend versammelten sich die Verwandten … Alle baten: »Erzähl nur, erzähle, hab keine Angst … Wer schweigt, wird krank.« Nach einem Monat begann ich zu reden, dabei hatte ich gedacht, ich würde es niemals tun. Ich würde für immer schweigen.
    Ich wartete … wartete … und wartete … Abulfas kam nicht nach einem Monat … auch nicht nach einem halben Jahr, nein, er kam erst nach sieben Jahren. Nach sieben Jahren … Sieben Jahre … A-a-ach … Wäre unsere Tochter nicht gewesen, hätte ich nicht überlebt … Meine Tochter hat mich gerettet. Um ihretwillen habe ich mit aller Kraft durchgehalten. Um zu überleben, muss man wenigstens einen dünnen Faden haben … Um zu überleben … und zu warten … Und dann … Eines Morgens … An einem von vielen Morgen … Da kam er herein, umarmte mich und die Tochter. Er stand da … Er stand da … noch immer im Flur, und plötzlich sehe ich, wie er ganz langsam zusammensackt. Im nächsten Augenblick lag er schon auf dem Boden, im Mantel und mit Mütze. Wir haben ihn zum Sofageschleppt, ihn hingelegt. Wir waren erschrocken – wir müssen einen Arzt rufen, aber wie? Wir sind nicht in Moskau gemeldet und nicht krankenversichert. Wir sind Flüchtlinge. Während wir noch so überlegten, meine Mutter weinte … und unsere Tochter saß mit großen Augen in der Ecke … Wir hatten so auf Papa gewartet … und nun ist Papa da und stirbt. Da öffnete er die Augen. »Ich brauche keinen Arzt. Es ist vorbei! Ich bin zu Hause.« Hier muss ich weinen … Hier muss ich … (Zum ersten Mal während unseres Gesprächs weint sie.) Daran kann ich nicht denken, ohne zu weinen … Einen Monat lang lief er auf Knien hinter mir her durch die Wohnung, küsste mir immer wieder die Hände. »Was willst du mir sagen?« »Ich liebe dich.« »Warum bist du so viele Jahre nicht gekommen?«
    … Sie hatten ihm den Ausweis gestohlen … Auch den zweiten … Seine Verwandten …
    … Seine Cousins waren nach Baku gekommen … Man hatte sie aus Jerewan vertrieben, wo schon ihre Väter und Großväter gelebt hatten. Jeden Abend erzählten sie … immer so, dass er es ja hörte: Dass

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