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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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man einem Jungen die Haut abgezogen und ihn an einem Baum aufgehängt hatte. Dass einem Nachbarn mit einem heißen Hufeisen ein Mal auf die Stirn gebrannt wurde … Dass … Dass … »Und wo willst du hin?« »Zu meiner Frau.« »Du willst zu unserem Feind. Du bist nicht unser Bruder. Nicht unser Sohn.«
    … Ich rief immer wieder an. Und bekam zu hören: »Er ist nicht zu Hause.« Ihm erzählten sie, ich hätte angerufen und gesagt, ich würde heiraten. Ich rief immer wieder an. Wenn seine Schwester abnahm: »Vergiss diese Nummer. Er hat eine andere Frau. Eine Muslimin.«
    … Mein Vater … Er wollte, dass ich glücklich bin … Er hat mir meinen Ausweis weggenommen und ihn irgendwelchen Leuten gegeben, damit sie mir einen Stempel reindrückten, dass ich geschieden bin. Einen gefälschten Stempel. Sie haben darin herumgemalt, -gewischt und -korrigiert, und jetzt ist an der Stelle ein Loch. »Papa! Warum hast du das getan? Du weißt doch: Ich liebe ihn!« »Du liebst unseren Feind.« Mein Ausweis ist verdorben … er ist nun ungültig …
    … Ich habe Shakespeares Romeo und Julia gelesen … Über die Feindschaft zwischen zwei Clans – den Capulets und den Montagues. Das ist meine Geschichte … ich verstand jedes Wort davon …
    … Ich erkannte meine Tochter nicht wieder. Sie fing an zu lächeln … Vom ersten Augenblick an, als sie ihn sah: »Papa! Papotschka!« Als sie noch klein war … da hat sie oft seine Fotos aus dem Koffer geholt und geküsst. Aber so, dass ich es nicht sah … Und nicht weinte …
    Doch das ist noch nicht das Ende … Sie meinen, das wäre alles? Das Ende? O nein, es ist noch nicht zu Ende …
    … Auch hier leben wir wie im Krieg … Wir sind überall Fremde. Das Meer würde mich heilen. Mein Meer! Aber hier gibt es kein Meer …
    … Ich habe in der Metro Fußböden gewischt, Toiletten geputzt. Auf dem Bau Ziegel geschleppt und Zementsäcke. Jetzt putze ich in einem Restaurant. Abulfas renoviert Wohnungen für reiche Leute. Gute Menschen bezahlen, schlechte betrügen ihn. »Hau ab, Tschutschmek XXXVII ! Sonst rufen wir die Miliz.« Wir sind hier nicht gemeldet … wir haben keine Rechte … Solche wie uns gibt es hier wie Sandkörner in der Wüste. Hunderttausende sind aus ihrer Heimat geflohen: Tadschiken, Armenier, Aserbaidschaner, Georgier, Tschetschenen … Nach Moskau, in die Hauptstadt der UdSSR , aber das ist jetzt die Hauptstadt eines anderen Staates. Unser Staat ist auf der Landkarte nicht mehr zu finden …
    … Meine Tochter hat vor einem Jahr die Schule beendet … »Mama … Papa … Ich möchte studieren!« Sie hat keinen Ausweis … Wir leben wie auf der Durchreise. Wir sind Untermieter einer alten Frau, sie ist zu ihrem Sohn gezogen und vermietet ihre Einzimmerwohnung an uns. Manchmal klopft die Miliz an: Ausweiskontrolle … Wir verkriechen uns wie die Mäuse. Wieder wie die Mäuse … Wenn sie uns nun zurückschicken … Aber wohin zurück? Wohin sollten wir gehen? Binnen vierundzwanzig Stunden! Wir haben kein Geld, um uns loszukaufen … Und eine neue Unterkunft würden wir kaum finden. In den Anzeigen heißt es überall: »Vermieten Wohnung an eine slawische Familie …« »Vermieten … an eine orthodoxe russische Familie. Andere bitte gar nicht erst melden …«
    … Abends aus dem Haus gehen ist nicht drin. Wenn mein Mann und meine Tochter sich verspäten, nehme ich Baldrian. Ich bitte meine Tochter: Mal dir nicht die Augenbrauen an, trag keine auffälligen Kleider. Da wurde ein armenischer Junge getötet, dort ein tadschikisches Mädchen … ein Aserbaidschaner mit einem Messer erstochen … Früher waren wir alle sowjetisch, heute haben wir eine neue Nationalität: »Personen kaukasischer Nationalität«. Wenn ich morgens zur Arbeit laufe, sehe ich jungen Männern nie ins Gesicht – ich habe schwarze Augen, schwarze Haare. Wenn wir sonntags auf die Straße gehen, die ganze Familie, dann bleiben wir in unserem Bezirk, in der Nähe unseres Hauses. »Mama, ich will zum Arbat. Ich will über den Roten Platz laufen.« »Dorthin gehen wir nicht, Töchterchen. Da sind Skinheads. Mit Hakenkreuzen. Ihr Russland ist nur für die Russen. Ohne uns.« (Sie schweigt.) Niemand weiß, wie oft ich schon sterben wollte …
    … Meine Tochter … von klein auf bekommt sie zu hören: Tschutschmetschka … Tschurka … Als sie klein war, hat sie das nicht verstanden. Wenn sie aus der Schule kam, habe ich sie immer wieder geküsst, damit sie diese Wörter vergaß.
    Alle Armenier

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