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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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gutherzige Frau, aus Mitleid einen Eimer Milch; ich schlich mich ängstlich durch die Gärten nach Hause, da traf ich eine Melkerin, und sie lachte mich aus. »Wieso versteckst du dich? Geh ruhig durchs Dorf. Hier klauen alle, und du hast die Milch ja geschenkt gekriegt.« Geklaut wurde alles, was nicht niet- und nagelfest war, am meisten klaute der Kolchosvorsitzende. Ganze Wagenladungen voll. Er kam immer wieder zu uns … Agitierte uns: »Kommt zu mir auf die Milchfarm! Sonst verhungert ihr noch.« Sollten wir, oder sollten wir nicht? Der Hunger zwang uns. Zum morgendlichen Melken mussten wir um vier Uhr früh aufstehen. Wenn alle noch schliefen. Ich melkte die Kühe, Mama wusch die Tröge aus, sie hatte Angst vor den Kühen, ich dagegen mochte sie. Jede Kuh hatte einen Namen … Dymka, Tscherjomucha … Ich hatte dreißig Kühe und zwei Färsen … Wir karrten Sägespäne heran, bis zu den Knien im Dung. Bis über die Stiefel. Wir hievten die Kannen auf Wagen … Die waren schwer, etliche Kilo … (Sie schweigt.) Bezahlt wurden wir mit Milch – und mit Fleisch, wenn mal eine Kuh sich erdrosselt hatte oder im Schlamm ertrunken war. Die Melkerinnen tranken genauso viel wie die Männer, und meine Mutter trank bald mit. Zwischen uns war es nicht mehr wie früher, das heißt, wir kamen weiter gut miteinander aus, aber ich schrie sie immer öfter an. Dann war sie beleidigt. Ganz selten mal, wenn sie gute Laune hatte, rezitierte sie für mich Gedichte … Ihre geliebte Zwetajewa: »Die Esche mit Beeren war rötlich entflammt. Es fielen die Blätter, mein Leben begann.« 3 Dann erkannte ich meine Mutter von früher wieder. Aber das war selten.
    Bald kam der Winter. Es gab gleich strengen Frost. In dieser Hütte hätten wir den Winter nicht überlebt. Ein Nachbar hatte Mitleid mit uns und fuhr uns umsonst nach Moskau …
Von einer Zeit, in der »der Mensch« nicht stolz klingt,  
 sondern sehr verschieden
     
    Ich bin hier mit Ihnen ins Reden gekommen, dabei habe ich ganz vergessen, dass ich eigentlich Angst davor habe, mich zu erinnern … (Sie schweigt.) Was ich von den Menschen halte? Die Menschen sind weder schlecht noch gut, es sind einfach Menschen, mehr nicht. In der Schule wurde ich nach sowjetischen Lehrbüchern unterrichtet, andere gab es noch nicht, und da hieß es: Der Mensch – das klingt stolz. 4 Aber der Mensch, das klingt nicht stolz, das klingt verschieden. Ich bin auch verschieden, in mir ist von allem etwas … Aber wenn ich einen Tadschiken sehe, die sind ja bei uns jetzt so was wie Sklaven, Menschen zweiter Klasse, also wenn ich Zeit habe, dann bleibe ich stehen und spreche mit ihm. Geld habe ich ja keins, aber ich rede mit ihm. So ein Mensch … Das ist meinesgleichen, er ist in der gleichen Lage wie ich – ich weiß, wie es ist, wenn du für alle eine Fremde bist, wenn du vollkommen allein bist. Auch ich habe in Hausfluren gelebt, in Kellern geschlafen …
    Erst hat eine Freundin meiner Mutter uns aufgenommen, sie waren nett zu uns, und mir gefiel es dort sehr. Eine vertraute Umgebung: Bücher, Schallplatten, ein Bild von Che Guevara an der Wand. Wie früher bei uns … die gleichen Bücher, die gleichen Platten … Tante Oljas Sohn war Doktorand, er hockte den ganzen Tag in der Bibliothek, und nachts entlud er auf dem Güterbahnhof Waggons. Wir hatten so gut wie nichts zu essen. In der Küche stand ein Sack Kartoffeln, das war alles. Als die Kartoffeln alle waren, hatten wir nur noch ein Brot pro Tag. Wir tranken den ganzen Tag Tee. Ohne alles. Ein Kilo Fleisch kostete dreihundertzwanzig Rubel, und Tante Olja verdiente gerade mal hundert Rubel, sie war Lehrerin an einer Grundschule. Alle strampelten sich ab, um irgendwas dazuzuverdienen. Legten sich krumm … Einmal ging der Wasserhahn in der Küche kaputt, wir ließen Klempner kommen, und die hatten einen Doktortitel. Darüber mussten wir alle lachen. Wie sagte unsere Großmutter immer: »Von Trauer kann man sich nicht ernähren.« Urlaub, das ist Luxus, kaum jemand kann sich diesen Luxus erlauben … Tante Olja fuhr in ihrem Urlaub nach Minsk, dort lebte ihre Schwester, eine Uni-Dozentin. Sie nähten Kissen aus künstlichem Fell, füllten sie zur Hälfte mit Schaumstoffflocken und stopften kurz vor der Reise in jedes Kissen einen Hundewelpen, dem sie ein Schlafmittel gespritzt hatten. Damit fuhren sie nach Polen … Mit Hundewelpen … oder Kaninchen … Auf den Flohmärkten wurde überall russisch gesprochen … In Thermosflaschen wurde

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