Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
niemand … Niemand hat uns erzählt, dass nebenan Kinder schliefen … Die Masanik war ihr Kindermädchen … (Sie schweigt.) Menschen, die ein Gewissen hatten, haben sich nach dem Krieg geschämt, sich an die Dinge zu erinnern, die sie im Krieg tun mussten. Unser Vater hat darunter gelitten …
In der Metrostation Awtosawodskaja hat sich ein Junge in die Luft gesprengt – ein Selbstmordattentäter. Seine Eltern erzählten später, er habe viel gelesen. Habe Tolstoi geliebt. Er war im Krieg aufgewachsen: Bombenangriffe, Artilleriebeschuss, er hatte seine Cousins sterben sehen – und war mit vierzehn Jahren zu Chattab 3 in die Berge geflohen. Er wollte Rache. Wahrscheinlich war er ein reiner Junge mit einem heißen Herzen … Die anderen lachten ihn aus: Haha … der kleine Dummkopf … Aber bald war er der Beste im Schießen und im Handgranatenwerfen. Seine Mutter hat ihn dort weggeholt und ins Dorf zurückgebracht, er sollte die Schule fertig machen und Fliesenleger werden. Doch nach einem Jahr verschwand er wieder in den Bergen. Er lernte mit Sprengstoff umgehen und kam nach Moskau … (Sie schweigt.) Hätte er für Geld getötet, wäre alles klar, aber er hat nicht für Geld getötet. Dieser Junge hätte sich auch unter einen Panzer geworfen oder eine Entbindungsklinik in die Luft gesprengt …
Wer bin ich? Wir sind Menschen aus der Menge … immer in der Menge … Unser Leben ist alltäglich, unauffällig, aber wir geben uns Mühe. Wir lieben und leiden. Doch das interessiert niemanden, über uns schreibt niemand Bücher. Die Menge … die Masse. Mich hat noch nie jemand über mein Leben befragt, darum erzähle ich Ihnen das jetzt alles. »Mama, verbirg deine Seele« – das sagen meine Mädchen. Dauernd belehren sie mich. Die jungen Leute leben in einer härteren Welt, als die Sowjetwelt es war … (Sie schweigt.) Ich habe das Gefühl, das Leben ist nichts mehr für uns, für Leute wie uns, das Leben ist irgendwo anders. Irgendwo … Irgendetwas geschieht, aber nicht mit uns … Ich gehe nicht in teure Läden, da geniere ich mich: Dort stehen Sicherheitsleute, die mustern mich verächtlich, weil ich Kleider vom Billigmarkt trage. Massenware aus China. Ich fahre mit der Metro, ich habe Todesangst, aber ich fahre trotzdem. Die reicheren Leute fahren nicht Metro. Die Metro ist für die Armen da, nicht für alle, bei uns gibt es jetzt wieder Fürsten und Bojaren und Bedienstete. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal in einem Café gesessen habe, das kann ich mir schon lange nicht mehr leisten. Auch Theater ist jetzt Luxus, dabei habe ich früher keine Premiere versäumt. Das tut weh … sehr weh … Heute ist irgendwie alles grau, weil wir keinen Zugang haben zu dieser neuen Welt. Mein Mann holt Taschen voller Bücher aus der Bibliothek, das ist das Einzige, wovon wir noch nicht ausgeschlossen sind. Wir können noch durch das alte Moskau schlendern, zu unseren Lieblingsorten – Jakimanka, Kitaigorod, Warwarka. Das ist unser Panzer, heute legt sich jeder einen Panzer zu. (Sie schweigt.) Wir haben gelernt … Bei Marx steht: »Kapital ist Diebstahl.« Ich stimme ihm zu.
Ich habe die Liebe gekannt … Ich spüre immer, ob mich jemand liebt oder nicht, und mit dem, der mich liebt, fühle ich mich intuitiv verbunden. Ohne Worte. Ich musste gerade an meinen ersten Mann denken … Habe ich ihn geliebt? Ja. Sehr? Wahnsinnig. Ich war zwanzig. Den Kopf voller Träume. Wir lebten mit seiner schönen alten Mutter zusammen, sie war eifersüchtig auf mich: »Du bist genauso schön wie ich in meiner Jugend.« Die Blumen, die er mir schenkte, stellte sie in ihr Zimmer. Später habe ich sie verstanden, vielleicht erst jetzt, da ich weiß, wie sehr ich meine beiden Mädchen liebe, wie eng die Bindung zu einem Kind sein kann. Der Psychologe will mir einreden: »Ihre Liebe zu den Kindern ist übertrieben. So darf man nicht lieben.« Aber sie ist ganz normal, meine Liebe. Liebe! Mein Leben … das ist meins, nur meins … Niemand kennt ein Rezept … (Sie schweigt.) Mein Mann hat mich geliebt, aber er hatte seine eigene Philosophie: Man kann nicht das ganze Leben mit einer einzigen Frau verbringen, man muss auch andere kennenlernen. Ich habe viel nachgedacht … geweint … Ich habe es geschafft, ihn gehen zu lassen. Und blieb allein mit der kleinen Xjuscha. Mein zweiter Mann … Er war für mich wie ein Bruder, ich habe mir immer einen älteren Bruder gewünscht. Ich war verwirrt. Ich wusste nicht, wie ich mit ihm
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