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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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erzählt … Neben ihr stand ein Mann, so nah, dass sie schon etwas sagen wollte. Sie kam nicht mehr dazu. Und dann war er ihre Deckung, hat viele Splitter abbekommen, die sonst sie getroffen hätten. Ob er wohl noch lebt? Ich denke oft an ihn … ich sehe ihn direkt vor mir … Aber Xjuscha kann sich nicht an ihn erinnern. Woher habe ich das? Wahrscheinlich habe ich ihn mir selbst ausgedacht. Irgendwer hat sie schließlich für mich gerettet …
    Ich kenne die richtige Medizin … Xjuscha muss glücklich sein. Nur das Glück kann sie heilen. Sie braucht etwas ganz Besonderes … Wir waren in einem Konzert von Alla Pugatschowa – die lieben wir alle, unsere ganze Familie. Ich wollte zu ihr gehen oder ihr einen Zettel schicken: »Singen Sie für mein Mädchen. Sagen Sie, dass das nur für sie allein ist.« Damit sie sich wie eine Königin fühlt … ganz hoch erhoben … Sie hat die Hölle gesehen und muss nun das Paradies sehen. Damit ihre Welt wieder ins Gleichgewicht kommt. Meine Illusionen … meine Träume … (Sie schweigt.) Ich konnte mit meiner Liebe nichts ausrichten. An wen soll ich schreiben? An wen meine Bitten richten? Ihr habt am tschetschenischen Öl verdient, an den russischen Krediten, lasst mich mit ihr irgendwohin verreisen. Sie soll unter einer Palme sitzen, eine Schildkröte anschauen und die Hölle vergessen. In ihren Augen ist die ganze Zeit die Hölle. Kein Licht, ich sehe kein Licht darin.
    Ich habe angefangen, in die Kirche zu gehen … Ob ich gläubig bin? Ich weiß es nicht. Aber ich möchte mit jemandem reden. Einmal hat der Pope eine Predigt gehalten, dass der Mensch in großem Leid entweder Gott näherkommt oder sich von ihm entfernt, und wenn er sich von Gott entfernt, darf man ihn nicht tadeln, denn er tut es aus Empörung, aus Schmerz. Als hätte er von mir gesprochen.
    Ich betrachte die Menschen von außen, ich fühle mich ihnen nicht verwandtschaftlich verbunden … Ich schaue sie an, als wäre ich kein Mensch mehr … Sie sind Schriftstellerin, Sie werden mich verstehen: Worte haben wenig zu tun mit dem, was in einem Menschen vorgeht, früher habe ich mich selten mit meinem Innenleben beschäftigt. Jetzt lebe ich wie in einem Bergwerk … Es rumort in mir, ich denke nach … die ganze Zeit wälze ich etwas in mir herum … »Mama, verbirg deine Seele!« Nein, meine lieben Mädchen, ich will nicht, dass meine Gefühle, meine Tränen einfach so verschwinden. Ohne eine Spur zu hinterlassen, ein Zeichen. Das beunruhigt mich am meisten. Alles, was ich durchgemacht habe – das will ich nicht nur meinen Kindern hinterlassen. Ich möchte es auch an einen anderen Menschen weitergeben, damit es irgendwo liegt und jeder danach greifen kann.
     
    3. September – Gedenktag für die Terrorismusopfer. Moskau ist in Trauer. Auf den Straßen viele Invaliden, junge Frauen mit schwarzen Kopftüchern. Kerzen brennen: auf der Soljanka, auf dem Platz vor dem Theaterzentrum in der Dubrowka, vor den Metrostationen Kulturpark, Lubjanka, Awtosawodskaja, Rishskaja …
    Auch ich bin in der Menge. Ich frage und höre zu. Wie leben wir damit?
    Terroranschläge gab es in der Hauptstadt in den Jahren 2000 , 2001 , 2002 , 2004 , 2006 , 2010 und 2011.
     
    »Ich war auf dem Weg zur Arbeit, der Wagen war wie immer überfüllt. Die Explosion habe ich nicht gehört, aber plötzlich war alles ringsherum orange, und mein Körper war ganz taub; ich wollte den Arm bewegen – es ging nicht. Ich dachte noch, ich habe einen Schlaganfall, da verlor ich auch schon das Bewusstsein … Als ich wieder zu mir kam, sah ich – Menschen liefen über mich drüber, ganz hemmungslos, als wäre ich tot. Ich hatte Angst, zerquetscht zu werden, und reckte die Arme in die Luft. Irgendwer hob mich auf. Blut und Fleisch – das war das Bild …«
     
    »Mein Sohn ist erst vier. Wie soll ich ihm sagen, dass sein Papa tot ist? Er versteht doch noch nicht, was Tod bedeutet. Ich habe Angst, er könnte denken, dass sein Papa uns verlassen hat. Vorerst ist der Papa auf Dienstreise …«
     
    »Daran denke ich oft … Vor dem Krankenhaus standen die Menschen Schlange, um Blut zu spenden, und mit Netzen voller Apfelsinen. Sie flehten die erschöpften Krankenschwestern an: ›Bitte, nehmen Sie das Obst und geben Sie es irgendwem. Und sagen Sie mir, was Sie noch brauchen.‹ Die Mädchen von meiner Arbeitsstelle kamen mich besuchen, der Chef hatte ihnen ein Auto gegeben. Aber ich wollte niemanden sehen …«
     
    »Wir brauchen einen Krieg, dann

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