Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
zusammenleben sollte, als er mir einen Heiratsantrag machte. Wenn man Kinder will, muss es im Haus nach Liebe riechen. Er nahm Xjuscha und mich zu sich. »Lass es uns versuchen. Wenn es dir nicht gefällt, bringe ich euch zurück.« Irgendwie ging es gut mit uns. Liebe kann verschieden sein, wahnsinnig oder so ähnlich wie Freundschaft. Wie ein freundschaftlicher Bund. So denke ich gern, denn mein Mann ist ein sehr guter Mensch. Auch wenn ich nicht in Samt und Seide gelebt habe …
Dann kam Daschenka auf die Welt … Wir haben uns nie von unseren Kindern getrennt, im Sommer fuhren wir zusammen zur Großmutter ins Gebiet Kaluga. Dort gab es einen kleinen Fluss. Wiesen und Wald. Die Großmutter buk Kirschkuchen, davon reden die Kinder noch heute. Wir sind nie ans Meer gefahren, das blieb ein Traum. Mit ehrlicher Arbeit verdient man bekanntlich nicht viel Geld: Ich bin Krankenschwester, mein Mann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem Institut für Röntgentechnik. Aber die Mädchen wussten immer, dass wir sie lieben.
Viele vergöttern die Perestroika … Alle hofften auf etwas. Ich wüsste nicht, wofür ich Gorbatschow lieben sollte. Ich erinnere mich an die Gespräche im Schwesternzimmer: »Wenn der Sozialismus zu Ende geht, was kommt dann?« »Der schlechte Sozialismus geht zu Ende, und dann kommt ein guter Sozialismus.« Wir haben gewartet … haben die Zeitungen gelesen … Mein Mann hat bald seine Arbeit verloren, sein Institut wurde geschlossen. Plötzlich gab es massenhaft Arbeitslose, alle mit Hochschulbildung. Kioske machten auf, dann Supermärkte, wo es alles gab, wie im Märchen, aber wir konnten es nicht kaufen. Ich ging rein und gleich wieder raus. Ich kaufte zwei Äpfel oder eine Apfelsine, wenn die Kinder krank waren. Wie soll man sich damit abfinden? Damit, dass es nun immer so sein soll? Wie? Ich stehe in der Schlange an der Kasse, und vor mir ein Mann mit einem Einkaufswagen, da liegen Ananas und Bananen drin … Das ist so verletzend für den Stolz. Deshalb sind die Menschen heute alle so müde. Wehe dem, der in der UdSSR geboren wurde und in Russland leben muss. (Sie schweigt.) Keinen einzigen meiner Träume habe ich verwirklichen können …
Als ihre Tochter ins Nebenzimmer gegangen ist und telefoniert, spricht sie im Flüsterton weiter.
Wie viele Jahre ist das her? Schon drei Jahre sind vergangen seit dem Anschlag … nein, mehr … Das ist mein Geheimnis … Mein Herzensgeheimnis … Ich kann mir nicht vorstellen, mich mit meinem Mann ins Bett zu legen und von ihm angefasst zu werden. Mein Mann und ich waren seitdem nicht mehr intim miteinander, ich bin seine Frau und doch nicht seine Frau; er redet auf mich ein: »Es würde dir besser gehen.« Meine Freundin, die Bescheid weiß, versteht mich auch nicht: »Du bist so toll, du bist so unheimlich sexy. Schau in den Spiegel, wie schön du bist. Diese Haare …« Diese Haare habe ich von Natur aus, ich habe meine Schönheit vergessen. Wenn der Mensch ertrinkt, saugt er sich voll Wasser, genauso bin ich mit Schmerz getränkt. Als hätte ich meinen Körper abgestoßen, als wäre da nur noch die Seele …
Die Tochter
… lagen Tote, in ihren Taschen klingelten ständig Mobiltelefone … Niemand wagte, sie zu nehmen und ranzugehen.
… saß ein blutüberströmtes Mädchen auf dem Boden, und ein junger Mann bot ihr Schokolade an …
… meine Jacke ist nicht verbrannt, aber total zusammengeschmolzen. Die Ärztin untersuchte mich und sagte sofort: »Legen Sie sich auf die Trage.« Ich hab noch protestiert: »Ich kann selber aufstehen und zum Krankenwagen laufen«, da hat sie mich richtig angeschrien: »Legen Sie sich hin!« Im Krankenwagen hab ich das Bewusstsein verloren, erst auf der Intensivstation bin ich wieder zu mir gekommen …
… warum ich schweige? Ich war mit einem Jungen zusammen, wir haben sogar … Er hat mir einen Ring geschenkt … Ich habe ihm erzählt, was mir passiert ist … Vielleicht hat das ja gar nichts miteinander zu tun, aber wir haben uns getrennt. Das habe ich mir gemerkt, ich habe begriffen, dass Offenheit zu nichts führt. Du bist Opfer eines Sprengstoffanschlags geworden, du hast überlebt, und nun bist du noch verwundbarer und schwächer. Du trägst den Stempel des Opfers; ich will nicht, dass jemand diesen Stempel sieht …
… unsere Mutter liebt das Theater, manchmal ergattert sie billige Karten. »Komm, Xjuscha, wir gehen ins Theater.« Ich lehne ab, und dann geht sie mit Papa. Theater kann
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