Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
mich nicht mehr beeindrucken …
Die Mutter
Der Mensch weiß nicht, warum das gerade ihm zugestoßen ist, darum möchte er so sein wie alle. Sich verstecken. Das alles kann man nicht alles sofort abschalten …
Dieser Junge, der Selbstmordattentäter … und die anderen … Sie sind von den Bergen zu uns heruntergekommen: »Wie wir getötet werden, seht ihr nicht. Also werden wir das mal bei euch tun.« (Sie schweigt.)
Ich überlege … Ich möchte mich erinnern … Wann war ich glücklich? Ich muss nachdenken … In meinem Leben gab es nur eine glückliche Zeit – als die Kinder klein waren …
Wenn es an der Tür klingelt – Xjuschas Freunde … Dann bitte ich sie in die Küche. Das habe ich von meiner Mutter: Gästen muss man als Erstes etwas zu essen vorsetzen. Eine Zeitlang haben die jungen Leute nicht über Politik geredet, jetzt tun sie es wieder. Sie streiten über Putin … »Putin ist ein Klon von Stalin …« »Das ist nicht von langer Dauer …« »Damit ist das Land im Arsch …« »Es geht um Gas, um Öl …« Die Frage ist: Wer hat Stalin zu Stalin gemacht? Die Frage der Schuld …
Muss man nur die verurteilen, die erschossen und gefoltert haben, oder:
– auch den, der denunziert hat …
– den, der das Kind eines »Volksfeindes« den Angehörigen weggenommen und es ins Kinderheim gesteckt hat …
– den Fahrer, der Verhaftete gefahren hat …
– die Putzfrau, die nach den Folterungen den Boden wischte …
– den Eisenbahnchef, der Güterzüge mit politischen Häftlingen in den Norden schickte …
– die Schneider, die Pelzjacken für die Lageraufseher nähten. Die Ärzte, die den Häftlingen die Zähne gerichtet und sie kardiologisch untersucht haben, damit sie besser arbeiten konnten …
– diejenigen, die geschwiegen haben, als andere auf Versammlungen brüllten: »Die Hunde sollen wie Hunde sterben!«
Von Stalin kamen sie auf Tschetschenien … Und wieder das Gleiche: Derjenige, der tötet, der Bomben legt – ja, der ist schuldig, aber was ist mit denen, die in Fabriken die Bomben und Granaten herstellen, die Uniformen nähen, die Soldaten schießen lehren … ihnen Auszeichnungen verleihen … Sind die etwa auch schuldig? (Sie schweigt.) Ich hätte mich am liebsten schützend vor Xjuscha gestellt, sie gegen diese Gespräche abgeschirmt. Sie saß da, die Augen ganz groß vor Entsetzen. Schaute mich an … (Sie dreht sich zu ihrer Tochter um.) Xjuschenka, ich bin nicht schuldig, und auch Papa ist nicht schuldig, er unterrichtet jetzt Mathematik. Ich bin Krankenschwester. In unser Krankenhaus wurden manchmal verwundete Offiziere aus Tschetschenien eingeliefert. Wir behandelten sie, und dann fuhren sie natürlich wieder zurück. In den Krieg. Die wenigsten von ihnen wollten dorthin zurück, viele sagten offen: »Wir wollen nicht kämpfen.« Ich bin Krankenschwester, ich habe den hippokratischen Eid geschworen …
Es gibt Tabletten gegen Zahnschmerzen, gegen Kopfschmerzen, aber keine gegen meinen Schmerz. Der Psychologe hat mir einen Plan aufgestellt: Morgens auf nüchternen Magen ein halbes Glas Johanniskraut, zwanzig Tropfen Weißdornextrakt, dreißig Tropfen Gichtrose … Über den ganzen Tag verteilt. Ich habe das alles genommen. War sogar bei einem Chinesen … Es hat nicht geholfen … (Sie schweigt.) Die alltäglichen Dinge lenken ab, nur sie bewahren dich davor, verrückt zu werden. Die Routine ist Medizin: waschen, bügeln, stopfen …
Bei uns auf dem Hof steht eine alte Linde … Ich gehe daran vorbei – das war bestimmt schon ein paar Jahre danach – und spüre: Die Linde blüht. Der Duft … Vorher war das alles nicht so intensiv … nicht so … Die Farben waren gedämpft, die Laute … (Sie schweigt.)
Im Krankenhaus habe ich mich mit einer Frau angefreundet, sie saß nicht im zweiten Waggon, wie Xjuscha, sondern im dritten. Sie ging schon wieder arbeiten, schien alles überwunden zu haben. Und dann ist irgendetwas passiert – und da wollte sie vom Balkon springen, aus dem Fenster. Danach haben ihre Eltern das ganze Haus vergittert, sie lebten wie in einem Käfig. Sie hat es mit Gas versucht … Ihr Mann hat sie verlassen … Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist. Jemand hat sie irgendwann mal in der Metrostation Awtosawodskaja gesehen. Sie lief den Bahnsteig entlang und rief: »Wir nehmen mit der rechten Hand drei Handvoll Erde und werfen sie auf den Sarg. Erde … auf den Sarg.« Sie schrie, bis Sanitäter sie abholten …
Ich dachte, das hätte mir Xjuscha
Weitere Kostenlose Bücher