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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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gleich ins Internet gestellt. Die Sesselfurzer in den Büros, die stehen auf harte Sachen.«
     
    »Heute sie, morgen wir. Und alle schweigen, alle haben sich damit abgefunden.«
     
    »Bemühen wir uns, so gut es geht, die Verstorbenen mit unseren Gebeten zu unterstützen. Um Gottes Gnade zu bitten …«
     
    Auf einer improvisierten Bühne führen Schüler ein Programm auf. Sie sind mit Bussen gekommen. Ich gehe näher heran.
     
    »Ich finde Bin Laden interessant … Al-Qaida ist ein globales Projekt …«
     
    »Ich bin für individuellen Terror. Für punktuellen. Zum Beispiel gegen Polizisten, Beamte …«
     
    »Terror – ist das gut oder schlecht?«
     
    »Jetzt ist das gut.«
     
    »Ich hab keine Lust mehr, hier rumzustehen. Wann können wir endlich hier weg?«
     
    »Ein geiler Witz: Terroristen besichtigen Sehenswürdigkeiten in Italien. Sie kommen zum Turm von Pisa. Sie lachen: ›Dilettanten!‹«
     
    »Terror, das ist ein Geschäft.«
     
    »Opferung, wie in uralten Zeiten …«
     
    »Mainstream …«
     
    »Aufwärmübung vor der Revolution …«
     
    »Was Persönliches …«

VON EINER ALTEN FRAU MIT SENSE
UND EINEM HÜBSCHEN JUNGEN MÄDCHEN
     
Alexander Laskowitsch – Soldat, Unternehmer,
Emigrant – 21 bis 30 Jahre alt
     
Der Tod ähnelt der Liebe
     
    Als ich ein Kind war, stand bei uns auf dem Hof ein Baum … Ein alter Ahorn … Ich sprach oft mit ihm, er war mein Freund. Als mein Großvater starb, habe ich lange geweint. Den ganzen Tag hab ich geheult. Ich war fünf Jahre alt, und ich hatte begriffen, dass ich einmal sterben würde, dass alle sterben würden. Entsetzt fürchtete ich, alle würden vor mir sterben, und dann wäre ich ganz allein. In schrecklicher Einsamkeit. Meine Mutter bedauerte mich, doch als mein Vater dazukam, sagte er: »Wisch dir die Tränen ab. Du bist ein Mann. Ein Mann weint nicht.« Dabei wusste ich noch gar nicht, was ich bin. Ich mochte nie ein Junge sein, ich spielte nicht gern Krieg. Aber ich wurde gar nicht gefragt, das wurde über meinen Kopf hinweg entschieden … Meine Mutter hatte sich ein Mädchen gewünscht, mein Vater wie immer eine Abtreibung gewollt.
    Mit sieben wollte ich mich das erste Mal aufhängen … Wegen einer chinesischen Schüssel … Meine Mutter hatte in dieser Schüssel Konfitüre gekocht und sie auf einen Hocker gestellt, und mein Bruder und ich rannten unserer Katze hinterher. Muska flog wie ein Schatten über die Schüssel, wir nicht … Mutter war noch jung, Vater war bei einer militärischen Übung. Auf dem Fußboden breitete sich eine große Konfitürelache aus … Mutter verfluchte ihr Schicksal einer Offiziersfrau und dass sie am Arsch der Welt leben musste … auf Sachalin … wo im Winter der Schnee bis zu zehn Metern hoch liegt und die Kletten im Sommer so groß werden wie sie. Sie griff nach Vaters Koppel und jagte uns hinaus. »Mama, es regnet, und im Schuppen beißen die Ameisen.« »Raus! Los! Raus hier!« Mein Bruder lief zu den Nachbarn, aber ich wollte mich allen Ernstes aufhängen. Ich verkroch mich im Schuppen und fand in einem Korb einen Strick. Wenn sie am Morgen kämen, würde ich da hängen: Das habt ihr davon, ihr Schweine! Da schob sich Muska zur Tür herein … Miau-miau … »Liebe Muska! Du willst mich trösten.« Ich habe sie umarmt, sie an mich gedrückt, und so saßen wir beide bis zum Morgen da.
    Mein Vater … Wie war mein Vater? Er las Zeitung und rauchte. Er war stellvertretender Politchef eines Fliegerregiments. Wir zogen von einer Garnisonsstadt in die andere und lebten in Wohnheimen. Lange Ziegelbaracken, überall gleich. Sie rochen nach Schuhwichse und dem billigen Rasierwasser Chypre. So roch auch Vater immer. Ich war acht, mein Bruder neun – Vater kommt von der Arbeit, sein Schulterriemen und seine chromledernen Stiefel knarren. In diesem Moment wünschen mein Bruder und ich, wir wären unsichtbar, seinem Blick entzogen! Vater nimmt das Buch Der wahre Mensch 1 von Boris Polewoi vom Regal, das ist bei uns zu Hause das Vaterunser. »Wie ging es weiter?«, fragt er zuerst meinen Bruder. »Na, das Flugzeug ist abgestürzt. Und Alexej Maresjew ist losgekrochen … Verwundet. Er hat einen Igel gegessen … ist in einen Graben gestürzt …« »In was für einen Graben denn?« »In einen Bombentrichter von einer Fünf-Tonnen-Bombe«, sage ich. »Was? Das war gestern.« Vaters Kommandeursstimme lässt uns beide zusammenzucken. »Heute habt ihr also nicht weitergelesen?« Und dann: Wir rennen um den

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