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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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… »Wir haben in einer großen Zeit gelebt!«, provoziert er mich und wartet auf meine Reaktion. Vater braucht den Kampf, anders hat das Leben für ihn keinen Sinn. Nur auf den Barrikaden und mit einer Fahne! Wir sitzen vorm Fernseher: Ein japanischer Roboter holt verrostete Minen aus dem Sand … eine … noch eine … Ein Triumph von Wissenschaft und Technik! Ein Triumph menschlichen Geistes! Vater ärgert sich allerdings, dass es nicht unsere Technik ist. Aber da … Am Ende der Reportage macht der Roboter vor unseren Augen einen Fehler und explodiert. Wie heißt es so schön? Wenn du einen Scharfschützen rennen siehst – lauf hinterher. Aber so ist ein Roboter nicht programmiert. Vater versteht das nicht: »Wieso müssen sie ausländische Technik ruinieren? Haben wir etwa nicht genug Soldaten?« Er hat sein eigenes Verhältnis zum Tod. Vater hat nur dafür gelebt, jeden Auftrag von Partei und Regierung zu erfüllen. Ein Menschenleben war weniger wert als ein Stück Eisen.
    Auf Sachalin … Wir wohnten gleich neben dem Friedhof. Fast jeden Tag hörte ich Trauermusik: War der Sarg gelb, war jemand aus der Siedlung gestorben, war er mit rotem Tuch bezogen, war der Tote ein Flieger. Die meisten Särge waren rot. Nach jedem roten Sarg brachte Vater eine Tonbandkassette mit nach Hause … Flieger kamen … Auf dem Tisch – qualmende Zigarettenstummel und funkelnde Wodkagläser. Die Kassette lief: »Hier Bord sowieso … Ein Triebwerk ist ausgefallen …« »Schalten Sie das zweite ein.« »Das versagt auch.« »Versuchen Sie, den linken Motor anzulassen.« »Geht nicht.« »Den rechten …« »Auch nicht …« »Katapultieren!« »Das Kabinendach klemmt … Scheiße!! A-a-ah …« Ich stellte mir den Tod lange als einen Fall aus großer Höhe vor. Ein junger Pilot fragte mich eines Tages: »Was weißt du schon über den Tod, Kleiner?« Ich war erstaunt. Mir schien, dass ich darüber schon immer Bescheid wusste. Ein Junge aus unserer Klasse war beerdigt worden … Er hatte ein Feuer gemacht und Patronen hineingeworfen … Das gab einen mächtigen Knall! Und dann … dann lag er im Sarg, als würde er sich nur tot stellen, und alle schauten ihn an, aber niemand konnte ihn mehr erreichen … Ich konnte den Blick nicht von ihm abwenden … als hätte ich schon immer Bescheid gewusst, als wäre ich mit diesem Wissen geboren worden. Vielleicht bin ich ja schon mal gestorben? Oder meine Mutter saß, als ich noch in ihr war, am Fenster und sah zu, wie sie zum Friedhof gefahren wurden: ein roter Sarg, ein gelber Sarg … Ich war wie hypnotisiert vom Tod, Dutzende Male am Tag dachte ich an ihn. Viele Male. Der Tod roch nach Papirossastummeln, Sprottenresten und Wodka. Der Tod ist nicht unbedingt eine zahnlose Alte mit Sense XXXVIII – vielleicht ist er ja ein schönes junges Mädchen? Und ich werde es sehen.
    Wenn man achtzehn ist … Da wünscht man sich alles: Frauen, Wein, Reisen … Rätsel, Geheimnisse. Ich dachte mir verschiedene Leben aus, phantasierte mir was zusammen. Und in diesem Augenblick wirst du eingefangen … Meine Fresse! Ich würde mich noch heute am liebsten in Luft auflösen, verschwinden, damit mich niemand findet. Ohne jede Spur. Irgendwo untertauchen – als Waldarbeiter, als Obdachloser ohne Papiere. Immer wieder überfällt mich ein und derselbe Traum: Sie holen mich zur Armee, sie haben irgendwas verwechselt, und ich muss noch einmal dienen. Ich schreie, wehre mich: »Ich habe schon gedient, ihr Schweine! Lasst mich los!« Ich werde fast verrückt! Ein schrecklicher Traum … (Pause.) Ich wollte kein Junge sein … Ich wollte kein Soldat sein, Krieg interessierte mich nicht. Vater sagte: »Du musst endlich ein Mann werden. Sonst denken die Mädchen noch, du wärst impotent. Die Armee ist eine Schule des Lebens.« Ich sollte töten lernen … In meiner Phantasie sah das so aus: Trommelwirbel, Schützenketten, perfekte Mordwaffen, pfeifendes heißes Blei und … zertrümmerte Schädel, ausgeschlagene Augen, abgerissene Gliedmaßen … das Heulen und Stöhnen von Verwundeten … Und das Gebrüll der Sieger … derjenigen, die besser töten konnten … Töten! Töten! Mit einem Pfeil, einer Kugel, einer Granate oder einer Atombombe – in jedem Fall töten … einen anderen Menschen töten … Ich wollte das nicht … Und ich wusste: Zum Mann machen würden mich bei der Armee andere Männer. Entweder ich wurde getötet, oder ich tötete. Mein Bruder war mit rosarotem Nebel im Kopf zur Armee gegangen,

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