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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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… Da kommt dir der Gedanke, ein gemeiner Gedanke: Noch wasche ich ihnen die Unterhosen und Fußlappen, aber eines Tages bin ich selber ein Vieh und lasse mir die Unterhosen waschen. Zu Hause hatte ich gemeint, ich sei lieb und nett. Hatte geglaubt, dass man mich nicht brechen und mein Ich nicht zerstören könne. Das war »davor« … (Pause.) Dauernd hatte ich Hunger, vor allem Süßes fehlte mir. Bei der Armee stehlen alle, und deshalb bekommt der Soldat statt der ihm zustehenden siebzig Gramm Zucker nur dreißig. Einmal waren wir eine Woche lang ohne Kascha – irgendwer hatte auf der Bahnstation einen Waggon Graupen geklaut. Ich träumte von Bäckerläden … von Kuchen mit Rosinen … Ich wurde ein Meister im Kartoffelschälen. Ein Virtuose! In einer Stunde schaffte ich drei Eimer Kartoffeln. Die Armee bekommt Kartoffeln, die nicht der Norm entsprechen … wie für Tierfutter … Du sitzt in einem Berg Kartoffelschalen … Scheiße! Beim Küchendienst kommt der Sergeant zum Soldaten: »Du schälst drei Eimer Kartoffeln.« Der Soldat: »Die Menschen fliegen längst ins All, aber eine Kartoffelschälmaschine haben sie noch nicht erfunden.« Der Sergeant: »Die Armee, Soldat, hat alles. Auch eine Kartoffelschälmaschine – das bist nämlich du. Das neueste Modell.« Die Soldatenkantine ist ein wahres Wunderland … Zwei Jahre lang Kascha, Sauerkraut, Makkaroni und Suppe aus Fleisch, das für den Kriegsfall in Depots gelagert war. Wie lange mag es dort gelegen haben? Fünf Jahre, zehn Jahre … Und alles wurde mit synthetischem Speisefett angemacht, aus großen orangefarbenen Fünfliterkanistern. Zu Neujahr wurde gezuckerte Kondensmilch über die Makkaroni gegossen – eine Köstlichkeit! Sergeant Valerian: »Kuchen könnt ihr zu Hause essen, mit euren Nutten …« Gabeln und Teelöffel stehen dem Soldaten laut Dienstvorschrift nicht zu. Nur ein Esslöffel. Einmal bekam jemand von zu Hause ein paar Teelöffel geschickt. Mein Gott! Mit welchem Genuss wir unseren Tee damit umrührten! Eine zivile Freude! Sie halten uns hier wie Schweine, und auf einmal haben wir Teelöffel. Mein Gott! Ich habe ja irgendwo ein Zuhause … Der diensthabende Hauptmann kam herein … Sah die Teelöffel: »Was soll das? Was ist das! Wer hat das erlaubt? Sofort raus mit diesem Dreck!« Löffel! Ein Soldat ist kein Mensch. Er ist ein Ding … ein Gerät … ein Mordwerkzeug … (Pause.) Dann die Entlassung. Wir … etwa zwanzig Mann … wir wurden mit einem Auto zur Bahnstation gefahren und abgeladen. »Na dann – macht’s gut! Macht’s gut, Jungs! Viel Glück im Zivilleben.« Wir stehen da. Nach einer halben Stunde stehen wir noch immer da. Eine Stunde vergeht … Und wir stehen da! Schauen uns um. Warten auf einen Befehl. Irgendwer muss uns befehlen: »Im Laufschritt marsch! Zur Kasse, Fahrkarten kaufen!« Aber es kommt kein Befehl. Ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit verging, bis wir kapierten, dass es keinen Befehl geben würde. Dass wir selbst entscheiden mussten. Meine Fresse! In den zwei Jahren hatten sie uns das Gehirn kaputtgemacht …
    Umbringen wollte ich mich an die fünf Mal … Aber wie? Aufhängen? Dann hängst du vollgeschissen da, mit raushängender Zunge … die stopft dir keiner in den Mund zurück … Wie jener Junge im Zug, auf der Fahrt zu unserer Einheit. Verfluchen werden sie dich … die eigenen Kameraden … Vom Wachturm springen – da wirst du ein Haufen Matsch! Dir beim Wachdienst mit der MP in den Kopf schießen – der platzt auseinander wie eine Melone. Das wollte ich meiner Mutter nicht antun. Der Kommandeur hatte gesagt: »Wenn ihr euch umbringen wollt, dann bitte nicht durch Erschießen. Menschen kann man leichter abschreiben als Patronen.« Das Leben eines Soldaten ist weniger wert als eine Dienstwaffe. Ein Brief von einem Mädchen … Das bedeutet bei der Armee sehr viel. Da zittern jedem die Hände. Briefe durften nicht aufbewahrt werden. Bei der Nachtschrankkontrolle: »Eure Weiber überlasst mal uns. Ihr müsst noch dienen wie die Kupferkessel. Schmeiß dein Altpapier ins Klo.« Du greifst dir Rasiermesser, Kugelschreiber und Notizblock. Dann sitzt du auf dem Klo und liest zum letzten Mal: »Ich liebe dich … Küsse …« Scheiße! Vaterlandsverteidiger! Ein Brief von meinem Vater: »Es ist Krieg in Tschetschenien … Du verstehst mich!!« Vater erwartet einen Helden zurück … Ein Fähnrich bei uns, der war in Afghanistan, als Freiwilliger. Der Krieg hat seinem Kopf übel mitgespielt. Er

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