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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Tisch, wie drei Clowns – ein großer und zwei kleine, wir mit heruntergelassenen Hosen, Vater mit dem Koppel in der Hand. (Pause.) Wir sind doch alle mit Filmen aufgewachsen, nicht? Wir sehen die Welt in Bildern … Nicht mit Büchern, sondern mit Filmen sind wir aufgewachsen. Mit Musik … Gegen die Bücher, die Vater ins Haus brachte, bin ich noch immer allergisch. Mir wird ganz schlecht, wenn ich bei irgendwem Der wahre Mensch oder Die junge Garde 2 im Regal stehen sehe. O ja! Mein Vater träumte davon, uns vor einen Panzer zu werfen … Er wollte, dass wir so schnell wie möglich erwachsen wurden und als Freiwillige in den Krieg zogen … Eine Welt ohne Krieg konnte sich mein Vater nicht vorstellen. Helden wurden gebraucht! Ein Held wird man nur im Krieg, und wenn einer von uns die Beine verloren hätte wie Alexej Maresjew, wäre Vater glücklich gewesen. Dann wäre sein Leben nicht umsonst gewesen … Alles großartig! Ein gelungenes Leben! Und er … ich glaube, er hätte eigenhändig das Urteil vollstreckt, wenn ich den Eid gebrochen oder im Kampf gewankt hätte. Ein Taras Bulba! 3 »Ich habe dich gezeugt, ich werde dich auch töten.« 4 Vater lebte ganz für die Idee, er ist kein Mensch. Die Heimat sollte man bedingungslos lieben … ohne Wenn und Aber … Das hörte ich meine ganze Kindheit hindurch. Das Leben ist uns nur gegeben, um die Heimat zu verteidigen … Aber ich war in keiner Weise auf Krieg zu programmieren, auf die hündische Bereitschaft, ein Loch in einem Damm mit dem eigenen Körper zu stopfen oder mich bäuchlings auf eine Mine zu legen. Ich liebte den Tod nicht … Als Junge zerquetschte ich Marienkäfer, auf Sachalin gibt es im Sommer Marienkäfer wie Sand am Meer. Ich zerquetschte sie, wie es alle taten. Bis ich eines Tages erschrak: Warum habe ich so viele kleine rote Leichname gemacht? Muska warf vor der Zeit Junge … Ich fütterte sie, wollte sie aufpäppeln. Mutter kam dazu: »Was ist – sind sie tot?« Und nach diesen Worten starben sie. Keine Tränen! »Ein Mann weint nicht …« Vater schenkte uns Uniformmützen, und an Feiertagen legte er Platten mit Kriegsliedern auf. Mein Bruder und ich saßen da und hörten zu, und über Vaters Wange rann eine »verstohlene Mannesträne«. Wenn er betrunken war, erzählte er uns immer die gleiche Geschichte: Ein »Held« ist von Feinden umzingelt, er schießt, bis er nur noch eine Kugel übrig hat, und die jagt er sich ins Herz … An dieser Stelle fiel Vater wie im Film um, wobei er immer mit dem Fuß gegen den Hocker stieß, der dann ebenfalls umkippte. Da mussten wir lachen. Vater wurde nüchtern und sagte beleidigt: »Es gibt nichts zu lachen, wenn ein Held stirbt.«
    Ich wollte nicht sterben … In der Kindheit ist der Gedanke an den Tod schrecklich … »Ein Mann muss bereit sein«, »heilige Pflicht gegenüber der Heimat …« »Was? Du weißt nicht, wie man eine Kalaschnikow auseinandernimmt und wieder zusammenbaut?« Nein, das war für meinen Vater undenkbar. Eine Schande! O ja! Am liebsten hätte ich mich mit meinen Milchzähnen in Vaters chromledernen Stiefeln festgebissen, um mich geschlagen und gebissen. Warum hat er mir den nackten Hintern versohlt, vor dem Nachbarsjungen Vitka!? Und mich dabei noch als »Mädchen« beschimpft …
    Ich bin nicht für den Totentanz geboren. Ich habe klassische Ballettfüße … ich wollte Tänzer werden … Vater diente einer großen Idee. Als hätte man das ihnen allen ins Gehirn gepflanzt, waren sie stolz darauf, dass sie zwar keine anständigen Hosen besaßen, aber ein Gewehr … (Pause.) Wir sind inzwischen erwachsen … wir sind längst erwachsen … Mein armer Vater! Das Leben hat inzwischen das Genre gewechselt … Wo früher die Optimistische Tragödie 5 gespielt wurde, laufen heute Komödien und Actionfilme. »Es kriecht und kriecht und nagt Kiefernzapfen – was ist das? Alexej Maresjew.« Vaters Lieblingsheld … »Kinder spielen im Keller Gestapo, foltern zu Tode den Klempner Potapow …« Das ist alles, was von Vaters Idee übrig geblieben ist … Und Vater selbst? Er ist ein alter Mann, der in keiner Weise bereit ist für das Alter. Er sollte jede Minute genießen, den Himmel anschauen, die Bäume. Oder Schach spielen, Briefmarken sammeln … oder Streichholzschachteln … Stattdessen sitzt er vorm Fernseher: Das Parlament tagt – Linke, Rechte, Kundgebungen und Demonstrationen mit roten Fahnen. Vater ist dabei! Er ist für die Kommunisten. Wenn wir beim Abendbrot zusammensitzen

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