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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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aufs Spiel. Wer ihm in die Quere kommt, dem jagt er eine Gabel in die Kehle! Er hat schon alles erlebt, alles niedergebrannt. So einer springt jeden an und beißt zu. Und hundert junge Männer auf einem Haufen? Das sind Tiere! Ein Rudel junger Wölfe! Im Gefängnis und bei der Armee herrschen die gleichen Gesetze. Absolute Willkür. Regel Nummer eins: Hilf nie einem Schwachen. Schwache musst du schlagen! Die Schwachen werden sofort aussortiert … Regel Nummer zwei: Du hast keine Freunde, jeder ist allein. Der eine grunzt nachts, ein anderer quakt, der Nächste ruft nach seiner Mama, einer furzt … Aber für alle gilt eine Regel: »Beuge dich, oder beuge andere.« Alles simpel, wie zwei mal zwei. Wozu nur habe ich so viele Bücher gelesen? Habe Tschechow geglaubt … Er hat geschrieben, man müsse tröpfchenweise den Sklaven aus sich herauspressen und alles am Menschen müsse schön sein: die Seele, die Kleidung und die Gedanken. Dabei ist es manchmal umgekehrt! Genau umgekehrt! Manchmal möchte der Mensch gern Sklave sein, es gefällt ihm. Und man presst tröpfchenweise den Menschen aus ihm heraus. Der Sergeant macht dir gleich am ersten Tag klar, dass du Vieh bist, eine willenlose Kreatur. Er befiehlt: »Hinlegen! Auf!« Alle stehen auf, einer bleibt liegen. »Hinlegen! Auf!« Er bleibt liegen. Der Sergeant wird gelb, dann violett. »Was soll das?« »Es ist alles eitel …« »Was?« »Der Herr lehrt: Du sollst nicht töten, du sollst nicht einmal zürnen …« Der Sergeant rennt zum Kompaniechef, der zum KGB -Offizier. Sie schauen sich die Akte des Mannes an: Er ist Baptist. Wie ist der bei der Armee gelandet?! Er wurde von allen isoliert und dann weggebracht. Er sei extrem gefährlich! Weil er nicht Krieg spielen wollte …
    Die Ausbildung des jungen Soldaten: Stechschrittübungen, Dienstvorschrift auswendig lernen, die Kalaschnikow auseinander- und wieder zusammenbauen – mit geschlossenen Augen … unter Wasser … Es gibt keinen Gott! Der Sergeant ist für uns Gott, Zar und militärischer Vorgesetzter. Sergeant Valerian: »Man kann sogar Fische dressieren. Klar?« »Beim Singen müsst ihr so brüllen, dass eure Arschmuskeln zittern.« »Je tiefer ihr euch eingrabt, desto weniger werdet ihr getötet.« Folklore!! Der schlimmste Albtraum sind die Kunstlederstiefel … Die russische Armee wurde erst vor kurzem auf Schuhe umgerüstet. Ich musste noch Stiefel tragen. Damit Kunstleder glänzt, muss man dick Schuhcreme auftragen und mit einem Wolllappen kräftig polieren. Geländelauf – zehn Kilometer in Kunstlederstiefeln. Bei dreißig Grad Hitze … Die Hölle! Albtraum Nummer zwei waren die Fußlappen … Es gab zwei Sorten – für den Winter und für den Sommer. Die russische Armee hat sich als Letzte von den Fußlappen getrennt … im 21. Jahrhundert … Ich habe mir damit viele blutige Blasen geholt. Fußlappen wickelt man von der Fußspitze aus, und zwar nach außen, nie nach innen. Die Truppe tritt an. »Soldat … warum humpeln Sie? Es gibt keine zu engen Stiefel, nur falsche Füße.« Ständig wird unflätig geflucht, das ist kein Schimpfen, das ist der normale Umgangston, vom Oberst bis zum einfachen Soldaten. Etwas anderes habe ich dort nie gehört.
    Das Abc des Überlebens: Der Soldat ist ein Tier, das alles kann … die Armee ist ein Gefängnis, in dem man eine von der Verfassung festgelegte Haftzeit verbringt … Mama, ich habe Angst! Ein junger Soldat … das ist ein »Frischling«, ein »Dachs«, ein »Wurm« … »He, Dachs! Bring mir Tee.« »He … putz meine Stiefel …« He, he! »Ganz schön hochnäsig, du Arsch.« Und dann beginnen die Drangsalierungen … In der Nacht halten vier Mann einen fest, zwei verprügeln ihn … Sie haben eine Technik entwickelt, bei der keine blauen Flecke zurückbleiben. Keine Spuren. Zum Beispiel mit einem nassen Handtuch … mit Löffeln … Einmal wurde ich so vermöbelt, dass ich zwei Tage nicht reden konnte. Im Hospital gibt es gegen alles nur eine Medizin: Seljonka 6 . Wenn sie das Prügeln überhaben, »rasieren« sie einen mit einem trockenen Handtuch oder mit einem Feuerzeug. Wird auch das langweilig, füttern sie einen mit Fäkalien, mit Abfällen. »Du sollst mit den Händen reingreifen! Mit den Händen!« Diese Männer sind rohes Vieh! Sie zwingen einen, nackt durch die Kaserne zu laufen … zu tanzen … Ein junger Soldat hat keinerlei Rechte … Mein Vater: »Die Sowjetarmee ist die beste Armee der Welt …«
    Und dann … da kommt ein Moment

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