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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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als Romantiker, und als zutiefst verschreckter Mensch war er zurückgekommen. Jeden Morgen war er ins Gesicht getreten worden. Er schlief im unteren Bett, ein Altgedienter über ihm. Ein ganzes Jahr lang ein Fußtritt ins Gesicht! Da versuch mal, du selbst zu bleiben. Und was man mit einem erst alles machen kann, wenn man ihn nackt auszieht! Zum Beispiel kann man ihn das eigene Glied lutschen lassen, und alle lachen darüber. Wer nicht lacht, lutscht als Nächster … Oder sie lassen einen mit einer Zahnbürste oder einer Rasierklinge die Soldatentoilette schrubben. »Das muss blitzen wie die Eier von einem Kater.« Meine Fresse! Es gibt Menschen, die können kein willenloses Vieh sein, und es gibt andere, die können nur das sein. Menschliche Knetmasse. Ich begriff, dass ich meine ganze Willenskraft zusammennehmen musste, um zu überleben. Ich ging in eine Sportsektion – Hatha Yoga und Karate. Ich lernte schlagen – ins Gesicht, zwischen die Beine. Lernte, wie man jemandem die Wirbelsäule bricht … Ich zündete ein Streichholz an, legte es auf meine Hand und wartete, bis es abgebrannt war. Natürlich hielt ich das nicht aus … Ich weinte. Ich erinnere mich … ich erinnere mich … (Pause.) Ein Drache läuft durch den Wald. Er trifft einen Bären: »Bär«, sagt der Drache, »ich esse um acht Abendbrot. Komm um acht, dann fresse ich dich.« Er geht weiter. Ein Fuchs läuft vorbei. »Fuchs«, sagt der Drache«, »ich frühstücke um sieben. Komm um sieben, dann fresse ich dich.« Er geht weiter. Ein Hase kommt angehoppelt. »Bleib stehen, Hase«, sagt der Drache, »ich esse um zwei Mittag. Komm um zwei, dann fresse ich dich.« Der Hase hebt die Pfote. »Ich habe eine Frage.« »Bitte.« »Kann ich auch wegbleiben?« »Ja, kannst du. Dann streiche ich dich von der Liste.« Aber die wenigsten bringen es fertig, diese Frage zu stellen … Scheiße!
    Der Abschied von zu Hause … Zwei Tage lang wurde gekocht, gebraten, gedünstet und gebacken. Zwei Kisten Wodka wurden gekauft. Alle Verwandten kamen. »Mach uns keine Schande, Junge!«, lautete der erste Toast meines Vaters. Und so weiter … Meine Fresse! Das übliche Gelaber: »Prüfungen bestehen« … »ehrenvoll abschneiden« … »Mut beweisen« … Am Morgen vor dem Wehrkomitee – Ziehharmonika, Gesang und Wodka aus Plastikbechern. Aber ich trinke nicht … »Bist du krank, oder was?« Vor der Abfahrt zur Bahnstation – Durchsuchung der persönlichen Sachen. Wir mussten alles auspacken, Messer, Gabeln und Essen wurden uns weggenommen. Von zu Hause hatten die meisten etwas Geld mitbekommen … Das versteckten wir tief in den Socken und Unterhosen. Meine Fresse! Künftige Verteidiger Russlands … Wir wurden in Busse verfrachtet. Die Mädchen winkten, die Mütter weinten. Und Abfahrt! Ein ganzer Waggon voller Männer. Ich habe kein einziges Gesicht behalten. Alle waren kahlgeschoren und trugen irgendwelche Lumpen. Wir sahen aus wie Häftlinge. Ich erinnere mich nur an Gesprächsfetzen: »Vierzig Tabletten … Suizidversuch … Entlassungsschein. Man muss blöd sein, um klug zu bleiben …« »Schlag mich ruhig! Schlag mich! Na und, bin ich eben ein Stück Scheiße, mir doch egal. Aber ich bin dann zu Hause, ficke mit Mädchen, und du gehst mit einem Gewehr in der Hand Krieg spielen.« »He, Jungs, jetzt tauschen wir die Turnschuhe gegen Stiefel und verteidigen die Heimat.« »Wer Kohle hat, der geht nicht zur Armee.« Drei Tage waren wir unterwegs. Die ganze Zeit wurde getrunken. Aber ich trinke nicht … »Du Ärmster! Wie willst du bei der Armee durchhalten?« Zum Schlafen hatten wir nur unsere Socken und das, was wir am Leib trugen. Nachts zogen wir die Schuhe aus … Meine Fresse! Ein Gestank war das! Hundert Kerle ziehen die Schuhe aus … Manche wechselten die Socken nur alle zwei oder gar alle drei Tage … Ich hätte mich am liebsten aufgehängt oder erschossen. Zur Toilette durften wir nur mit einem Offizier – dreimal am Tag. Wenn man öfter musste, hieß es aushalten. Die Toilette war abgeschlossen. Vorsichtshalber … wir kamen ja frisch von zu Hause … Einer hat sich in der Nacht trotzdem erhängt … Meine Fresse!
    Man kann einen Menschen programmieren … Er will das selbst. Eins, zwei! Eins, zwei! Im Gleichschritt!! Bei der Armee muss man viel laufen und viel rennen. Schnell und weit rennen; wenn du nicht mehr rennen kannst – kriech! Was kennzeichnet einen Berufskriminellen? Er treibt mit dem Tod keine Spielchen, er setzt sein ganzes Leben

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