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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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erzählte nichts darüber, nur »afghanische« Witze. Meine Fresse! Alle brüllten vor Lachen … Ein Soldat schleppt einen schwer verwundeten Freund, der ist am Verbluten. Er muss sterben. Er bittet: »Erschieß mich! Ich kann nicht mehr!« »Ich hab keine Patronen mehr. Sind alle.« »Dann kauf dir welche.« »Wo soll ich denn welche kaufen? Hier sind nur Berge, keine Menschenseele.« »Kauf mir welche ab.« (Er lacht.) »Genosse Offizier, warum haben Sie sich für Afghanistan gemeldet?« »Ich will Major werden.« »Nicht General?« »Nein, General werde ich nicht – der General hat selber einen Sohn.« (Pause.) Von uns hat sich keiner freiwillig nach Tschetschenien gemeldet. Ich erinnere mich an keinen einzigen Freiwilligen … Vater erschien mir im Traum: »Du hast doch den Eid abgelegt? Hast unter der roten Fahne gestanden: ›Ich schwöre … heilig zu erfüllen … strikt einzuhalten … mutig zu verteidigen … Und sollte ich diesen meinen feierlichen Eid brechen, so möge mich eine strenge Strafe treffen … allgemeiner Hass und Verachtung …‹« Im Traum floh ich, und er zielte auf mich … er zielte …
    Ich schiebe Wache. Eine Waffe in der Hand. Und da ist nur ein Gedanke: Nur ein, zwei Sekunden, und du bist frei. Einfach weg. Dann kommt ihr nicht mehr an mich ran, ihr Schweine! Keiner … Keiner! Wenn ihr nach dem Grund sucht, fangt da an, wo meine Mutter ein Mädchen wollte und mein Vater wie immer eine Abtreibung. Der Sergeant hat gesagt, du bist ein Sack voll Scheiße … ein Loch im Raum … (Pause.) Die Offiziere waren verschieden: Einer war ein dem Suff verfallener Intellektueller, sprach englisch, aber die meisten waren stumpfsinnige Säufer. Sie soffen, bis sie weiße Mäuse sahen … Manchmal jagten sie nachts die ganze Kaserne aus dem Bett und ließen die Soldaten über den Platz rennen, bis sie umfielen. Die Offiziere hießen bei uns Schakale. Ein schlechter Schakal … ein guter Schakal … (Pause.) Wer wird Ihnen schon erzählen, wie ein Mann von zehn anderen vergewaltigt wird … (Er lacht böse.) Das ist kein Spaß und keine Literatur … (Pause.) Mit einem Kipper wurden wir wie Vieh auf die Datscha des Kommandeurs geschafft. Dort schleppten wir schwere Betonplatten … (Er lacht böse.) Trommler! Spiel uns die Hymne der Sowjetunion!
    Ich wollte nie ein Held sein. Ich hasse Helden! Ein Held muss entweder viele Menschen töten … oder einen schönen Tod sterben … Du musst den Feind um jeden Preis töten: Erst benutzt du deine Waffe, und wenn dir Patronen und Granaten ausgehen, nimm ein Messer, den Gewehrkolben, einen Pionierspaten. Oder deine Zähne. Sergeant Valerian: »Du musst mit dem Messer umgehen lernen. Die Hand ist gut – da musst du reinstechen, nicht schneiden … von hinten … So … und so … Halt die Hand unter Kontrolle, geh hinter den Gegner … keine zu komplizierten Bewegungen … Sehr gut! Sehr gut! Jetzt dem Gegner das Messer entwinden … So … und so … Ja, du hast ihn getötet. Du hast ihn getötet! Schrei: ›Stirb, du Hund!‹ Warum schreist du nicht?« (Er hält inne.) Ständig wird einem eingebläut: Eine Waffe, das ist schön … Schießen ist echt männlich … Wir lernten an Tieren töten, sie brachten uns extra streunende Hunde und Katzen, damit unsere Hand später beim Anblick von menschlichem Blut nicht zitterte. Wie die Fleischer! Ich hielt das nicht aus … ich weinte nachts … (Pause.) Als Kinder spielten wir oft Samurais. Ein Samurai musste auf echt japanische Art sterben, er durfte nicht mit dem Gesicht nach unten fallen und nicht schreien. Ich schrie immer … Die anderen ließen mich nicht gern mitspielen … (Pause.) Sergeant Valerian: »Merkt euch … eine MP funktioniert so: eins, zwei, drei – und du bist tot …« Ach, leckt mich alle … Eins, zwei …
    Der Tod hat Ähnlichkeit mit der Liebe. In den letzten Augenblicken – Dunkelheit … heftige, unschöne Krämpfe … Vom Tod kann man nicht zurückkehren, aber aus der Liebe kehren wir zurück. Und können uns daran erinnern, wie es war … Wären Sie einmal fast ertrunken? Ich ja … Je mehr man sich wehrt, desto weniger Kraft hat man. Man muss sich abfinden und untergehen. Und dann … Wenn du leben willst, durchstößt du den Wasserhimmel und kommst zurück. Aber erst musst du untergehen bis zum Grund.
    Aber dort? Dort gab es kein Licht am Ende des Tunnels, auch Engel habe ich keine gesehen. Nur Vater, der an einem roten Sarg saß. Der Sarg war leer.
Über die Liebe aber wissen

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