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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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drei Monate alten Tochter noch nie … noch nie getroffen … Der russische Mensch bereitet sich nicht auf das Glück vor. (Pause.) Alle normalen Menschen bringen ihre Kinder ins Ausland. Viele meiner Freunde sind weg … sie rufen mich an, aus Israel, aus Kanada … Früher habe ich nie an Auswanderung gedacht. Weg hier … weg … Dieser Gedanke kam mir erst, nachdem meine Tochter geboren war. Ich möchte diejenigen, die ich liebe, schützen. Mein Vater wird mir das nicht verzeihen. Das weiß ich.
Russische Gespräche in Chicago
     
    Wir trafen uns noch einmal – in Chicago. Seine Familie hatte sich am neuen Ort schon ein wenig eingelebt. Einige Russen waren zusammengekommen. Eine russische Tafel und russische Gespräche, in denen zu den ewigen russischen Fragen – Was tun und Wer ist schuld 7 – eine weitere hinzugekommen war: auswandern oder nicht auswandern?
     
    »Ich bin weggegangen, weil ich Angst bekommen hatte … Bei uns endet jede Revolution damit, dass die Leute das Durcheinander nutzen und sich gegenseitig ausrauben und dass den Juden die Fresse poliert wird. In Moskau herrschte regelrecht Krieg, jeden Tag wurde irgendwer mit einer Bombe oder sonstwie getötet. Abends konnte man sich ohne Kampfhund nicht auf die Straße trauen. Ich habe mir extra einen Bullterrier angeschafft …«
     
    »Als Gorbatschow den Käfig aufgemacht hat, sind wir gleich raus. Was habe ich dort zurückgelassen? Eine beschissene Zweizimmerwohnung in einem Chruschtschow-Bau. Ich bin lieber Zimmermädchen mit einem guten Gehalt als Ärztin mit dem Geld einer Obdachlosen. Wir sind alle in der UdSSR aufgewachsen: Wir haben in der Schule Schrott gesammelt und liebten das Lied Tag des Sieges . Wir wurden mit den großen Märchen von Gerechtigkeit erzogen, mit russischen Zeichentrickfilmen, wo klar gezeigt wurde: Hier ist das Gute, da das Böse. Eine Welt, in der sozusagen alles richtig war. Mein Großvater ist bei Stalingrad für die sowjetische Heimat gefallen, für den Kommunismus. Aber ich wollte in einem normalen Land leben. Ich wollte Vorhänge an den Fenstern haben und Kissen, ich wollte, dass mein Mann, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, für die Familie da ist. Mit der russischen Seele ist bei mir nicht viel los, die ist bei mir nicht sehr ausgeprägt. Ich bin abgehauen in die Staaten. Ich esse im Winter Erdbeeren. Wurst gibt es hier in Massen, und sie ist kein Symbol für irgendwas …«
     
    »Die neunziger Jahre waren lustig und ein bisschen wie ein Märchen … Wenn man aus dem Fenster schaute: An jeder Ecke eine Demonstration. Aber bald war es nicht mehr märchenhaft und lustig. Ihr wolltet den freien Markt – bitte sehr! Mein Mann und ich sind Ingenieure, aber Ingenieur war bei uns das halbe Land. Für uns hieß es ohne große Umstände: Ab auf den Müll! Dabei waren wir es, die die Perestroika gemacht und den Kommunismus begraben hatten. Und nun wurden wir nicht mehr gebraucht. Ich mag gar nicht daran zurückdenken … Unsere kleine Tochter hatte Hunger, aber es war nichts im Haus. In der ganzen Stadt hingen Annoncen: kaufe … kaufe … ›Kaufe ein Kilo Lebensmittel‹ – nicht Fleisch oder Käse, nein, irgendwas zu essen. Man freute sich über ein Kilo Kartoffeln, auf dem Markt wurde Ölkuchen verkauft, wie im Krieg. Der Mann unserer Nachbarin wurde im Hauseingang erschossen. Ein Kioskbesitzer. Einen halben Tag lag er da, mit Zeitungspapier zugedeckt. In einer Blutlache. Im Fernsehen: Da wurde ein Bankier getötet, dort ein Geschäftsmann … Am Ende besaß eine Bande von Dieben alles. Nicht mehr lange, und das Volk wird zur Rubljowka 8 ziehen. Mit Äxten …«
     
    »Nicht die Rubljowka werden sie stürmen, sondern die Pappkartons auf den Märkten, in denen die Gastarbeiter XXXIX hausen. Die Tadschiken und Moldawier werden sie töten …«
     
    »Also, mir ist das alles scheißegal! Sollen sie doch alle krepieren. Ich lebe für mich …«
     
    »Ich habe beschlossen zu emigrieren, als Gorbatschow aus Foros zurückkam und sagte, vom Sozialismus würden wir uns nicht abkehren. Dann ohne mich! Ich will nicht im Sozialismus leben! Das war ein trostloses Leben. Schon als Kinder wussten wir: Wir werden Oktoberkinder, Pioniere, Komsomolzen. Das erste Gehalt – sechtzig Rubel, dann achtzig, am Ende hundertzwanzig … (Sie lacht.) Unsere Klassenlehrerin drohte: ›Wenn ihr Radio Swoboda hört, dürft ihr nie Komsomolzen werden. Wenn nun unsere Feinde davon erfahren?‹ Das Lustigste daran: Sie lebt inzwischen

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