Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
wir zu wenig
Einige Jahre später war ich wieder in der Stadt N (den Namen nenne ich auf Bitten meines Protagonisten nicht). Wir telefonierten und trafen uns. Er war verliebt, er war glücklich – und redete über die Liebe. Ich dachte nicht einmal gleich daran, das Diktiergerät einzuschalten, um diesen Moment des Übergangs nicht zu verpassen, wo das Leben, das normale Leben zu Literatur wird – auf diesen Moment warte ich immer, ich höre ihn in jedem Gespräch heraus, ob unter vier Augen oder in größerer Runde, aber manchmal bin ich nicht wachsam genug, dabei kann ein »Stück Literatur« überall aufblitzen, an den überraschendsten Stellen. Wie diesmal. Wir wollten nur zusammen einen Kaffee trinken, da bot das Leben eine Weiterentwicklung der Geschichte. Dies hier habe ich davon festgehalten …
Ich bin der Liebe begegnet … ich verstehe sie jetzt … Bis dahin hatte ich gedacht, Liebe, das seien zwei Dummköpfe mit erhöhter Temperatur. Bloßer Fieberwahn … Über die Liebe wissen wir zu wenig. Aber wenn man das mal aufräufelt … Krieg und Liebe kommen quasi aus demselben Feuer, das ist ein und derselbe Stoff, ein und dieselbe Materie. Der Mann mit dem Gewehr, derjenige, der den Elbrus besteigt, der, der bis zum Sieg an der Front gekämpft hat, und der, der am sozialistischen Paradies gebaut hat – das ist alles die gleiche Geschichte, der gleiche Magnet, die gleiche Spannung. Verstehen Sie? Man kann irgendwas nicht, kann irgendwas nicht kaufen oder kann nicht im Lotto gewinnen … Aber man weiß, dass es das gibt, und man will es unbedingt … Und weiß nicht, wie man es suchen soll. Und wo.
Das ist fast wie eine Geburt … Es beginnt wie mit einem Donnerschlag … (Pause.) Aber vielleicht sollte man diese Geheimnisse nicht erforschen? Scheuen Sie sich nicht davor?
Der erste Tag …
Ich komme zu einem Bekannten, da ist eine ganze Truppe versammelt, ich ziehe an der Garderobe meinen Mantel aus, jemand kommt aus der Küche, ich muss ausweichen, drehe mich um – sie! Das war wie eine Art Kurzschluss, als wäre plötzlich im ganzen Haus das Licht aus. Und das war’s. Normalerweise bin ich nicht um Worte verlegen, aber da habe ich mich nur hingesetzt und geschaut, ich habe nicht einmal sie angeschaut, das heißt, nicht dass ich sie nicht angesehen hätte, aber ich habe lange durch sie hindurchgeschaut, wie in den Tarkowski-Filmen: Jemand gießt Wasser aus einem Krug, es läuft neben die Tasse, dann dreht es sich ga-a-anz langsam mit der Tasse zusammen um. Das Ganze spielte sich viel schneller ab, als ich es jetzt erzähle. Wie ein Blitz! An jenem Tag habe ich etwas erfahren, das alles andere unwichtig erscheinen ließ, ich wusste nicht einmal recht, wieso. Es war passiert, und Schluss. Und es war unumstößlich. Ihr Bräutigam begleitete sie nach Hause, ich erfuhr, dass sie bald heiraten wollten, aber das war mir egal, und auf dem Heimweg war ich nicht mehr allein, sie war bei mir, sie war schon in mir. Wenn die Liebe beginnt … dann hat alles um einen herum plötzlich eine andere Farbe, es gibt mehr Stimmen, mehr Geräusche … Das ist unmöglich zu verstehen … (Pause.) Ich gebe es nur annähernd wieder …
Am Morgen erwachte ich mit dem Gedanken, dass ich sie finden müsse, dabei wusste ich weder ihren Namen noch ihre Adresse oder ihre Telefonnummer, aber es war passiert, etwas Wichtiges war in meinem Leben passiert. Sie war mir begegnet. Das war, als hätte ich etwas vergessen gehabt … und mich nun wieder daran erinnert … Verstehen Sie, wovon ich rede? Nein? Wir können das nicht ausdrücken … alle Worte wären künstlich, nur eine Kopie … Wir sind gewöhnt zu denken: Die Zukunft ist uns verborgen, aber das, was war, kann man erklären. Ist es wirklich geschehen oder nicht … das ist für mich die Frage … Vielleicht war ja gar nichts? Vielleicht ist es nur ein Film, der läuft … Ich kenne solche Momente in meinem Leben, die quasi nicht passiert sind. Aber sie sind passiert. Zum Beispiel war ich mehrfach verliebt … glaubte, verliebt zu sein … Ich besitze noch viele Fotos. Aber das alles ist aus meiner Erinnerung verschwunden, fortgeschwemmt. Es gibt Dinge, die nicht verschwinden, die man behalten muss. Aber alles andere … Erinnert sich der Mensch etwa an alles, was mit ihm war?
Der zweite Tag …
Ich kaufte eine Rose. Geld hatte ich so gut wie keins, doch ich fuhr auf den Markt und kaufte die größte Rose, die ich finden konnte. Und auch da … Wie soll ich das
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