Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
erklären? Eine Zigeunerin sprach mich an: »Komm, mein Lieber, lass dir wahrsagen. Ich sehe an deinen Augen …« Ich bin weggelaufen. Wozu sollte ich mir wahrsagen lassen? Ich wusste selber, dass das Geheimnis schon vor der Tür stand. Das Geheimnis, das Mysterium, die Entdeckung … Erst erwischte ich die falsche Wohnung – ein betrunkener Mann in einem ausgeleierten T- Shirt öffnete, sah mich mit meiner Rose und erstarrte. »Scheiße!« Ich stieg eine Etage höher … Hinter der Kette musterte mich eine merkwürdige alte Frau mit einem Strickhut. »Lena, Besuch für dich.« Später spielte sie uns etwas auf dem Klavier vor und erzählte vom Theater. Eine alte Schauspielerin. Sie hatten einen großen schwarzen Kater, der war ein richtiger Haustyrann und konnte mich aus irgendeinem Grund auf Anhieb nicht leiden, aber ich versuchte, ihm zu gefallen … Ein großer schwarzer Kater … Wenn dir das Mysterium der Liebe widerfährt, geschieht das quasi ohne dein Zutun. Verstehen Sie, wovon ich rede? Man muss nicht Kosmonaut, Oligarch oder ein Held sein – glücklich sein und etwas Phantastisches erleben kann man auch in einer ganz normalen Zweizimmerwohnung – achtundfünfzig Quadratmeter mit Bad, inmitten alter sowjetischer Sachen. Es wurde zwölf Uhr nachts, zwei … Ich musste gehen, aber ich wusste nicht, warum ich dieses Haus verlassen sollte. Ich fühlte mich, als wäre eine Erinnerung lebendig geworden … wie soll ich das ausdrücken … Als erinnerte ich mich plötzlich an all das, als hätte ich es lange vergessen gehabt und es nun wiedergefunden. Als wäre ich wieder zusammengefügt. Etwas in der Art … denke ich … so ähnlich empfindet wohl jemand, der viele Tage in einer Klosterzelle gelebt hat. Er entdeckt die Welt plötzlich in unendlich vielen Details. In vielfältiger Gestalt. Man kann das Mysterium zwar begreifen, wie etwas Gegenständliches, wie eine Vase zum Beispiel, aber um zu verstehen, muss man Schmerz empfinden. Wie soll man sonst etwas verstehen, wenn es nicht wehtut? Es muss wehtun …
… Über die Frauen aufgeklärt wurde ich zum ersten Mal mit sieben, von meinen Freunden, die im gleichen Alter waren, ich erinnere mich, wie sie sich freuten, dass sie Bescheid wussten und ich nicht – wir erklären dir gleich mal alles. Und dann zeichneten sie mit Stöcken etwas in den Sand …
… Dass eine Frau etwas anderes ist, fühlte ich zum ersten Mal mit siebzehn, nicht durch Bücher, sondern über die Haut, ich spürte ganz nah etwas unendlich anderes, einen riesigen Unterschied, und ich war zutiefst erschüttert, dass dies so anders war. Irgendetwas lag darin verborgen, im weiblichen Gefäß, das für mich unerreichbar war …
… Stellen Sie sich eine Kaserne vor … Es ist Sonntag. Es gibt nichts zu tun. Zweihundert Männer sitzen mit angehaltenem Atem da und schauen Aerobic: Auf dem Bildschirm lauter Mädchen in enganliegenden Trikots … Die Männer sitzen da wie die Ölgötzen. Wenn der Fernseher kaputtgeht, ist das eine Katastrophe, derjenige, der daran schuld ist, kann glatt getötet werden. Verstehen Sie? Auch das hat mit Liebe zu tun …
Der dritte Tag …
Ich stand am Morgen auf, ich hatte es nicht eilig – ich wusste, dass es sie gab, dass ich sie gefunden hatte. Die Sehnsucht war weg … Ich war nicht mehr allein … Plötzlich entdeckst du deinen Körper … die Hände, die Lippen … bemerkst draußen vorm Fenster den Himmel und die Bäume, und alles ist dir ganz nah gerückt, fast beengend nah. So etwas gibt es nur im Traum … (Pause.) Über eine Annonce in der Abendzeitung fanden wir eine unmögliche Wohnung in einem unmöglichen Bezirk. Ganz am Stadtrand, in einem Neubaugebiet. An Feiertagen brüllten die Männer draußen von morgens bis abends obszön herum und spielten um eine Flasche Wodka Domino oder Karten. Nach einem Jahr wurde unsere Tochter geboren … (Pause.) Und jetzt will ich Ihnen vom Tod erzählen … Gestern hat die ganze Stadt einen Klassenkameraden von mir begraben … er war Milizleutnant … Der Sarg wurde aus Tschetschenien gebracht und nicht geöffnet, die Mutter durfte den Sohn nicht noch einmal sehen. Was mag da drin gewesen sein? Es gab Salutschüsse und so weiter. Ruhm den Helden! Ich war dort. Zusammen mit meinem Vater … Die Augen meines Vaters schimmerten feucht … Verstehen Sie, wovon ich rede? Auf das Glück ist der Mensch nicht vorbereitet, er ist vorbereitet auf Krieg, auf Kälte und Hagel. Glückliche Menschen habe ich außer meiner
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