Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
selber in Israel …«
»Früher brannte auch ich für die Idee, da war ich keine simple Spießerin. Mir kommen noch heute die Tränen … beim Gedanken an den Putsch!! Panzer im Zentrum von Moskau – das war ein schlimmer Anblick. Meine Eltern kamen von der Datscha zurück, um sich mit Lebensmitteln einzudecken, falls es einen Bürgerkrieg geben würde. Diese Bande! Diese Junta! Sie dachten, sie müssten nur mit Panzern anrollen, und damit wäre alles entschieden. Sie dachten, die Leute wollten nur eines: Dass es wieder was zu essen gebe, und dann wären sie mit allem einverstanden. Das Volk strömte auf die Straße … das Land war aufgewacht … Das war nur ein kurzer Moment, eine Sekunde … Als wäre ein Knoten geplatzt … (Sie lacht.) Meine Mutter ist im Grunde eine oberflächliche Person, sie macht sich nie über irgendwas groß Gedanken. Politik liegt ihr fern, ihr Prinzip lautet: Das Leben vergeht, man muss jetzt alles nehmen, was man kriegen kann. Eine hübsche junge Frau. Aber selbst sie ist zum Weißen Haus gezogen, mit einem Schirm unterm Arm …«
»Hahaha … Statt Freiheit haben wir Vouchers bekommen. So haben sie das große Land aufgeteilt: Öl, Gas … Wie soll ich es ausdrücken … Der eine kriegt die Brezel, der andere das Loch in der Brezel. Die Vouchers hätte man in Unternehmensaktien investieren müssen, aber damit kannte sich kaum jemand aus. Geld machen hat im Sozialismus keiner gelernt. Mein Vater brachte Werbezettel mit nach Hause: ›Moskauer Immobilien‹, ›Öl-Diamant-Invest‹, ›Norilsker Nickel‹ … Er stritt sich in der Küche mit Mutter, und am Ende verscherbelten sie alles an einen Typen in der Metro. Von dem Erlös kauften sie mir eine modische Lederjacke. Das war der ganze Gewinn. In dieser Jacke bin ich nach Amerika gekommen …«
»Bei uns liegen sie noch immer rum. In dreißig Jahren werde ich sie an ein Museum verkaufen …«
»Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sehr ich dieses Land hasse … Ich hasse die Siegesparade! Mir wird übel von den grauen Plattenbauten und den Balkons voller Gläser mit eingemachten Tomaten und Gurken … und alter Möbel …«
»Dann begann der Tschetschenienkrieg … Unser Sohn hätte ein Jahr später zur Armee gemusst … Hungrige Bergarbeiter kamen nach Moskau und klapperten auf dem Roten Platz mit ihren Helmen. Vor dem Kreml. Keiner wusste, wohin das alles führen würde. Die Menschen dort sind großartig, wunderbar, aber leben kann man da nicht. Wir sind der Kinder wegen weggegangen, wir haben ihnen hier einen Start bereitet. Und nun sind sie erwachsen und schrecklich weit weg von uns …«
»… äh … wie heißt das auf Russisch? Ich vergesse die Sprache langsam … Emigration ist inzwischen normal, der Russe kann leben, wo er will, wo er es interessant findet. Der eine zieht von Irkutsk nach Moskau, der andere von Moskau nach London. Die ganze Welt ist eine Karawanserei geworden …«
»Ein wahrer Patriot kann Russland nur eine Okkupation wünschen. Dass irgendwer das Land besetzt …«
»Ich hatte eine Weile im Ausland gearbeitet und war nach Moskau zurückgekehrt … In mir stritten zwei Gefühle: Ich wollte in einer vertrauten Umgebung leben, in der ich wie in meiner eigenen Wohnung mit geschlossenen Augen jedes Buch auf dem Regal finde, und zugleich wollte ich in die weite Welt hinaus. Weggehen oder bleiben? Ich konnte mich nicht entscheiden. Das war 1995 … Ich weiß noch, ich ging die Gorkistraße entlang, vor mir unterhielten sich laut zwei Frauen … und ich verstand sie nicht … Dabei sprachen sie russisch. Ich war total verblüfft! Wie gelähmt … Lauter neue Wörter, und vor allem – die Intonation. Sehr viel südlicher Dialekt. Und ein anderer Gesichtsausdruck … Ich war nur wenige Jahre fort gewesen und war schon fremd. Die Zeit raste damals förmlich. Moskau war schmutzig, nichts mehr vom Glanz der Hauptstadt! Überall Müllhaufen. Der Müll der Freiheit: Bierdosen, bunte Etiketten, Apfelsinenschalen … Alle aßen Bananen. Heute ist das vorbei. Die Leute haben sich gesättigt. Ich begriff, dass es die Stadt, die ich so geliebt und in der ich mich so wohlgefühlt hatte, dass es diese Stadt nicht mehr gab. Die echten Moskauer saßen verschreckt zu Hause oder waren ausgewandert. Das alte Moskau war weg. Eine neue Bevölkerung hatte es eingenommen. Ich hätte am liebsten sofort meinen Koffer gepackt und wäre geflohen. Nicht einmal während des Augustputsches hatte ich
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