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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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eingebürgert für die Lohnarbeiter aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, die in Moskau arbeiten.
     
    XL Piter – um gangssprachliche Bezeichnung für Sankt Petersburg.

VON FREMDEM LEID, DAS GOTT EUCH
AUF DIE SCHWELLE EURES HAUSES GELEGT HAT
     
Rawschan, Gastarbeiter, 27 Jahre alt
     
Gafchar Dshurajewa, Vorsitzende  
 der Moskauer Stiftung »Tadschikistan«
     
    »Ein Mensch ohne Heimat ist wie eine Nachtigall
    ohne ihren Garten …«
     
    Ich weiß viel über den Tod. Irgendwann werde ich noch verrückt von all dem, was ich weiß …
    Der Körper ist das Gefäß unseres Geistes. Sein Haus. Nach muslimischem Brauch muss der Körper so schnell wie möglich begraben werden – möglichst am selben Tag, an dem Allah die Seele holt. Im Haus des Verstorbenen wird ein weißes Stück Stoff an einen Nagel gehängt, das bleibt vierzig Tage lang hängen. Nachts kommt die Seele und setzt sich darauf. Sie hört die vertrauten Stimmen, freut sich und fliegt zurück.
    Rawschan … Ich erinnere mich gut an ihn … Die übliche Geschichte … Sie hatten ein halbes Jahr lang keinen Lohn ausgezahlt bekommen, er hatte vier Kinder im Pamir, sein Vater war schwer krank. Rawschan ging ins Baukontor, bat um einen Vorschuss und wurde abgewiesen. Das war der letzte Tropfen. Er ging hinaus und schnitt sich mit einem Messer die Kehle durch. Ich bekam einen Anruf … Ich fuhr ins Leichenschauhaus … Dieses unglaublich schöne Gesicht … Das kann ich nicht vergessen. Sein Gesicht … Die Tadschiken sammelten Geld. Es ist für mich bis heute ein Rätsel, wie das geht: Keiner hat auch nur eine Kopeke, aber wenn jemand gestorben ist, wird sofort die nötige Summe gesammelt, jeder gibt das Letzte, damit der Tote zu Hause begraben wird, damit er in seiner Heimaterde liegt. Nicht in der Fremde. Den letzten Hundertrubelschein geben sie. Wenn man sagt, man muss nach Hause, gibt keiner was, wenn das Kind krank ist, auch nicht, aber für einen Toten – bitte sehr. Sie kamen zu mir und legten mir eine Plastiktüte mit diesen zerknitterten Hundertrubelscheinen auf den Tisch. Damit ging ich zur Aeroflot-Kasse. Zum Chef. Die Seele fliegt allein nach Hause, aber einen Sarg mit dem Flugzeug zu schicken ist teuer.
     
    Sie nimmt Papiere vom Tisch. Liest vor.
     
    … Polizisten kamen in eine Wohnung, in der Gastarbeiter lebten, eine schwangere Frau und ihr Mann, und sie verprügelten den Mann vor den Augen der Frau, weil sie nicht gemeldet waren. Sie bekam Blutungen und starb, zusammen mit dem ungeborenen Kind …
    … In einem Vorort von Moskau verschwanden drei Personen – zwei Brüder und ihre Schwester … Verwandte, die aus Tadschikistan angereist waren, wandten sich an uns. Wir riefen in der Bäckerei an, wo die drei gearbeitet hatten. Beim ersten Mal hieß es: »Kennen wir nicht.« Beim zweiten Mal war der Besitzer selbst am Telefon. »Ja, bei mir haben Tadschiken gearbeitet. Ich habe sie für drei Monate bezahlt, und sie sind am selben Tag gegangen. Keine Ahnung, wohin.« Da wandten wir uns an die Polizei. Alle drei wurden gefunden – man hatte sie mit einem Spaten erschlagen und im Wald verscharrt. Der Besitzer der Bäckerei rief bei unserer Stiftung an und drohte uns: »Ich habe überall meine Leute. Ich mach euch auch fertig.«
    … Zwei junge Tadschiken wurden mit einem Krankenwagen von einer Baustelle ins Krankenhaus gebracht … Sie lagen die ganze Nacht in der kalten Aufnahme, und niemand kümmerte sich um sie. Die Ärzte hielten mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg: »Was wollt ihr Schwarzärsche denn alle hier?«
    … Angehörige der Sondertruppen holten eines Nachts fünfzehn tadschikische Hauswarte aus einem Keller, warfen sie in den Schnee und prügelten auf sie ein, traten sie mit stahlbeschlagenen Schuhen. Ein fünfzehnjähriger Junge starb …
    … Eine Mutter bekam ihren Sohn tot aus Russland zurück. Ohne innere Organe … Auf dem Moskauer Schwarzmarkt kann man alles kaufen, was ein Mensch so hat: Nieren, Lungen, Leber, Netzhaut, Herzklappen, Haut …
     
    Das sind meine Brüder und Schwestern … Auch ich bin im Pamir geboren. Ich stamme aus den Bergen. Der Boden ist bei uns Gold wert, Weizen wird nicht in Säcken gemessen, sondern in Mützen. Ringsum gigantische Berge, gegen die jedes von Menschenhand geschaffene Wunder wie Kinderkram wirkt. Wie Spielzeug. Man lebt dort mit den Füßen auf der Erde und mit dem Kopf in den Wolken. So hoch oben, als wäre man nicht mehr auf dieser Welt. Das Meer ist etwas ganz anderes, das

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