Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Eine Freundin ging mit uns zu einem Ausverkauf, denn als wir ankamen, hatten mein Mann und ich jeder nur ein Paar Jeans, wir brauchten was zum Anziehen. Wir sahen: Ein Rock drei Dollar, eine Jeans fünf … Lächerliche Preise! Es roch nach Pizza … nach gutem Kaffee … Am Abend machten mein Mann und ich eine Flasche Martini auf und rauchten Marlboro … Unser Traum war Wirklichkeit geworden! Aber wir mussten mit vierzig Jahren ganz von vorn anfangen. Hier fällt man gleich zwei, drei Stufen tiefer, man muss vergessen, dass man Regisseur ist, Schauspielerin oder an der Moskauer Universität studiert hat … Am Anfang habe ich als Pflegerin im Krankenhaus gearbeitet: Nachttöpfe raustragen, Fußböden wischen. Das hielt ich nicht lange aus. Dann habe ich für zwei alte Leutchen Hunde ausgeführt. Später war ich Kassiererin im Supermarkt … Am 9. Mai, dieser Feiertag bedeutet mir am meisten, denn mein Vater hat den ganzen Krieg mitgemacht … da erzählte ich davon … Und die Chefkassiererin sagte: ›Wir haben den Krieg gewonnen, aber ihr Russen seid auch toll. Ihr habt uns geholfen.‹ So lernen sie das hier in der Schule. Ich wäre fast vom Stuhl gefallen! Was wissen sie schon über Russland? Die Russen trinken Wodka aus Wassergläsern, und bei ihnen liegt viel Schnee …«
»Wir sind wegen der Wurst hergekommen, aber die Wurst ist nicht so billig, wie wir gedacht hatten …«
»Die Gehirne verlassen Russland, stattdessen kommen Hände … Gastarbeiter … Meine Mutter schreibt, ihr Hauswart, ein Tadschike, hat seine ganze Sippe nach Moskau geholt. Jetzt arbeiten sie alle für ihn, und er ist der Herr, hat das Kommando. Seine Frau ist ewig schwanger. An ihren Feiertagen schlachten sie auf dem Hof einen Hammel. Direkt unter den Fenstern der Moskauer. Und braten Schaschlik …«
»Ich bin ein rationaler Mensch. Das sentimentale Gerede über die Sprache der Großeltern – das sind nur Emotionen. Ich habe mir verboten, russische Bücher zu lesen und ins russische Internet zu gehen. Ich will alles Russische aus mir austreiben. Ich will kein Russe mehr sein …«
»Mein Mann wollte unbedingt raus … Wir haben zehn Kisten russische Bücher mitgebracht, damit die Kinder die russische Sprache nicht vergessen. In Moskau hat der Zoll alle Kisten aufgemacht und nach Antiquarischem durchsucht, aber wir hatten nur Puschkin, Gogol … Die Zöllner haben sehr gelacht … Ich höre noch immer den Radiosender Majak , die russischen Lieder …«
»Russland, mein Russland … Mein geliebtes Piter! XL Wie gern würde ich heimkehren! Ich fange gleich an zu weinen … Es lebe der Kommunismus! Nach Hause! Selbst die Kartoffeln schmecken hier scheußlich. Und die russische Schokolade ist einfach wunderbar!«
»Und Unterhosen auf Bezugsschein finden Sie auch noch gut? Wenn ich daran denke, wie ich wissenschaftlichen Kommunismus pauken und eine Prüfung darin ablegen musste …«
»Die russischen Birken … und die Birken später …«
»Der Sohn meiner Schwester … Er spricht ausgezeichnet englisch. Er ist Computerspezialist. Er hat ein Jahr in Amerika gelebt und ist zurückgegangen. Er sagt, in Russland ist es jetzt interessanter …«
»Ich will auch mal was sagen … Vielen geht es jetzt auch dort gut, sie haben alles: Arbeit, ein Haus, ein Auto. Aber sie haben trotzdem Angst und wollen weg. Ihr Unternehmen könnte ihnen weggenommen werden, man könnte sie einsperren … oder sie eines Abends in ihrem Hauseingang zum Krüppel schlagen … Keiner hält sich an die Gesetze – weder oben noch unten …«
»Ein Russland mit Abramowitsch und Deripaska 10 … mit Luschkow 11 … Ist das etwa Russland? Dieses Schiff wird untergehen …«
»Kinder, man sollte in Goa leben … Und in Russland Geld verdienen …«
Ich gehe hinaus auf den Balkon. Hier stehen die Raucher und reden über das Gleiche: Verlassen heute die Klugen Russland oder die Dummen? Ich traue meinen Ohren nicht, als ich höre, wie drinnen am Tisch jemand die Moskauer Abende anstimmt, unser beliebtes Lied: Wenn es Abend wird in der großen Stadt, wenn die ersten Lichter erglühn, ja, dann denke ich noch so oft daran, wie es einst mit uns zwein begann. 12
… Ich gehe zurück ins Zimmer – nun singen alle. Ich auch.
XXXVIII zahnlose Alte mit Sense – Das Wort smertj is t im Russischen weiblich.
XXXIX Gastarbeiter – das deutsche Wort Gastarbeiter hat sich in den letzten Jahren in Russland
Weitere Kostenlose Bücher