Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
eine solche Angst verspürt. Damals war ich begeistert! Zusammen mit meiner Freundin brachte ich mit meinem alten Shiguli Flugblätter zum Weißen Haus, die hatten wir in unserem Institut gedruckt, da gab es ein Xerox. Auf dem Hin- und Rückweg fuhren wir an Panzern vorbei, und ich weiß noch, wie ich staunte, als ich auf den Panzern Flicken entdeckte. Quadratische Flicken, mit Schrauben befestigt …
In all den Jahren, während ich weg gewesen war, hatten meine Freunde in totaler Euphorie gelebt: Die Revolution ist vollbracht! Der Kommunismus ist gefallen! Irgendwie waren alle überzeugt, dass nun alles gut werden würde, weil es in Russland ja so viele gebildete Menschen gab. Es ist ein reiches Land … Aber Mexiko ist auch reich … Für Öl und Gas kann man keine Demokratie kaufen, und man kann sie auch nicht importieren wie Bananen oder Schweizer Schokolade. Nicht per Präsidentenerlass befehlen … Dafür braucht es freie Menschen, und die gab es nicht. Die gibt es auch heute nicht. In Europa wird die Demokratie seit zweihundert Jahren so sorgfältig gepflegt wie der Rasen. Zu Hause weinte meine Mutter. ›Du sagst, Stalin ist schlecht, aber mit ihm haben wir gesiegt. Und du willst die Heimat verraten …‹ Ein alter Freund von mir kam zu Besuch. Wir tranken in der Küche Tee. ›Was weiter wird? Nichts Gutes, solange wir nicht alle Kommunisten erschießen.‹ Wieder Blutvergießen? Ein paar Tage später reichte ich die Papiere für die Auswanderung ein …«
»Mein Mann und ich hatten uns scheiden lassen … Ich verklagte ihn auf Alimentenzahlung, aber er zahlte und zahlte nicht. Unsere Tochter ging auf eine private Hochschule, das Geld reichte hinten und vorn nicht. Meine Freundin kannte einen Amerikaner, der in Russland eine Firma gegründet hatte. Er suchte eine Sekretärin, aber kein Model mit Beinen bis zum Hals, sondern eine zuverlässige Person. Meine Freundin empfahl ihm mich. Er interessierte sich sehr für unser Leben, verstand aber vieles nicht. ›Warum tragen alle eure Geschäftsleute Lackschuhe?‹ ›Was bedeutet ›schmieren‹? Solche Dinge. Aber er hatte große Pläne: Russland ist ein riesiger Markt! Er wurde auf ganz banale Weise ruiniert. Mit einem simplen Trick. Für ihn bedeutete ein Wort etwas – er glaubte, was man ihm sagte. Er verlor viel Geld und beschloss, nach Hause zurückzukehren. Und dann … Vor seiner Abreise lud er mich ins Restaurant ein, ich dachte, er wollte sich verabschieden, und das war’s. Doch er hob sein Glas und sagte: ›Trinken wir – weißt du, worauf? Geld verdient habe ich hier nicht, aber dafür habe ich eine gute russische Frau gefunden.‹ Seit sieben Jahren leben wir inzwischen zusammen …«
»Früher haben wir in Brooklyn gewohnt … Überall russische Laute, russische Geschäfte. Man kann in Amerika von einer russischen Hebamme auf die Welt geholt werden, in eine russische Schule gehen, bei einem russischen Unternehmer arbeiten, zu einem russischen Priester zur Beichte gehen … Es gibt Wurstsorten wie Jelzinskaja, Stalinskaja, Mikojanskaja 9 … und Speck in Schokolade … Die alten Männer auf den Bänken spielen Domino und Karten. Und diskutieren endlos über Gorbatschow und Jelzin. Es gibt Stalinisten und Antistalinisten. Im Vorbeigehen hört man Dinge wie: ›War Stalin notwendig?‹ ›Ja, war er.‹ Aber ich wusste schon als kleines Mädchen Bescheid über Stalin. Ich war fünf … Meine Mutter und ich standen an der Bushaltestelle, ganz in der Nähe des KGB -Gebäudes unseres Bezirks, wie ich heute weiß, ich war bockig und weinte. ›Hör bitte auf zu weinen‹, sagte meine Mutter, ›sonst hören uns die bösen Menschen, die deinen Opa und viele andere gute Menschen geholt haben.‹ Dann erzählte sie von Großvater … Sie musste mit irgendwem darüber reden … Als Stalin gestorben war, mussten wir im Kindergarten alle dasitzen und weinen. Nur ich habe nicht geweint. Als Großvater aus dem Lager heimkehrte, fiel er vor Großmutter auf die Knie – sie hatte sich die ganze Zeit für seine Entlassung eingesetzt …«
»Jetzt laufen auch in Amerika viele junge Russen in T- Shirts mit einem Stalinbild herum. Auf die Kühlerhaube ihres Autos malen sie Hammer und Sichel. Und sie hassen die Schwarzen …«
»Wir kommen aus Charkow … Von dort aus erschien uns Amerika wie das Paradies. Das Land des Glücks. Der erste Eindruck, als wir herkamen: Wir wollten den Kommunismus aufbauen, und die Amerikaner haben es geschafft.
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