Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Meer lockt den Menschen, die Berge aber vermitteln ein Gefühl von Geborgenheit, sie schützen dich. Wie ein zweites Haus. Die Tadschiken sind keine Krieger; wenn ein Feind in ihr Land kam, gingen sie in die Berge … (Sie schweigt.) Mein tadschikisches Lieblingslied ist eine Klage über die verlassene Heimat. Ich muss immer heulen, wenn ich es höre … Es gibt für einen Tadschiken nichts Schlimmeres, als seine Heimat zu verlassen. Fern von der Heimat zu leben. Ein Mensch ohne Heimat ist wie eine Nachtigall ohne ihren Garten. Ich lebe seit vielen Jahren in Moskau, umgebe mich aber ständig mit Dingen von zu Hause: Wenn ich in einer Zeitschrift Berge sehe, schneide ich das Foto aus und hänge es an die Wand, genauso Fotos von blühenden Aprikosenbäumen oder von weißer Baumwolle. Im Traum ernte ich oft Baumwolle … Ich öffne die Kapsel, die Ränder der Kapsel sind sehr scharf, und darin liegt ein weißes Knäuel, wie Watte, es wiegt fast nichts, und das muss man herausholen, ohne sich dabei die Hände zu zerkratzen. Morgens wache ich dann ganz erschöpft auf … Auf den Moskauer Märkten suche ich immer nach tadschikischen Äpfeln, unsere Äpfel sind am süßesten, und nach tadschikischen Weintrauben, die sind süßer als Zucker. Als Kind habe ich immer davon geträumt, einmal den russischen Wald zu sehen, Pilze im Wald … Dort hinzufahren und diese Menschen zu sehen. Das ist der zweite Teil meiner Seele: eine russische Hütte, ein Ofen, Piroggen. (Sie schweigt.) Ich wollte von unserem Leben erzählen … Von meinen Brüdern … Für euch sehen sie alle gleich aus: schwarze Haare, ungewaschen, feindselig. Aus einer fremden Welt. Fremdes Leid, das Gott euch auf die Schwelle eures Hauses gelegt hat. Aber sie haben nicht das Gefühl, zu Fremden zu kommen, denn ihre Eltern haben in der UdSSR gelebt, Moskau war die Hauptstadt aller. Und heute finden sie hier Arbeit und ein Dach über dem Kopf. Im Orient heißt es: Spuck nicht in den Brunnen, aus dem du Wasser holst. In der Schule träumen alle tadschikischen Jungen davon, zum Geldverdienen nach Russland zu gehen … Das Geld für die Fahrkarte borgen sie sich im ganzen Kischlak zusammen. Wenn die russischen Zöllner sie an der Grenze fragen: »Zu wem fährst du?«, dann antworten sie: »Zu Nina« … Für sie heißen alle russischen Frauen Nina … Russisch lernen sie in der Schule nicht mehr. Jeder bringt einen Gebetsteppich mit …
Wir unterhalten uns in der Stiftung. Sie hat mehrere kleine Räume. Die Telefone stehen nicht still.
Gestern habe ich ein Mädchen gerettet … Sie hat mich aus einem Auto angerufen, als Polizisten mit ihr in den Wald fahren wollten, sie rief an und flüsterte: »Sie haben mich auf der Straße eingefangen und bringen mich aus der Stadt raus. Sie sind alle betrunken.« Sie nannte mir die Autonummer … Die betrunkenen Polizisten hatten vergessen, sie zu durchsuchen und ihr das Telefon abzunehmen. Das Mädchen war erst kürzlich aus Duschanbe gekommen … ein hübsches Mädchen … Ich bin Orientalin, schon als kleines Mädchen haben meine Großmutter und meine Mutter mir beigebracht, wie man mit Männern umgehen muss. »Feuer besiegst du nicht mit Feuer, nur mit Weisheit«, sagte meine Großmutter. Ich rief auf der Polizeiwache an. »Hör mal, mein Lieber, da ist etwas Seltsames im Gange. Eure Jungs fahren mit einem Mädchen von uns irgendwie in die falsche Richtung, und sie sind betrunken. Ruft sie an, bevor noch was Schlimmes passiert. Wir wissen die Autonummer.« Am anderen Ende der Leitung – wüste Flüche: Diese »Tschurki« XLI , diese »schwarzen Affen«, die haben gestern noch auf Bäumen gesessen, was verschwenden Sie Ihre Zeit mit denen? »Mein Lieber, hör mir zu, ich gehöre selber zu den ›schwarzen Affen‹ … Ich könnte deine Mutter sein …« Da war er sprachlos. Er ist schließlich auch ein Mensch … Darauf hoffe ich immer … Ein Wort gab das andere, wir redeten. Nach einer Viertelstunde kehrte der Wagen um … Das Mädchen wurde zurückgebracht … Sie hätten sie vergewaltigen können, sogar töten. Schon mehrmals … schon mehrmals habe ich solche Mädchen im Wald stückchenweise aufgesammelt … Wissen Sie, was ich bin? Ich bin eine Alchemistin … Wir sind eine gemeinnützige Stiftung, wir haben kein Geld und keine Macht, wir haben nur gute Leute. Unsere Helfer. Wir helfen, wir retten Hilflose. Wir haben nichts, unser Ziel erreichen wir nur dank unserer Nerven, durch Intuition, mit orientalischer
Weitere Kostenlose Bücher