Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
– Vaters Worte. Doch wir warteten auf ihn … »Wenn Papa erst zurückkommt … Er wird mich nicht erkennen …« »Unser lieber Papa …« So oft wie möglich sagten wir »Papa«. Und er kam zurück. Großmutter entdeckte an der Gartenpforte einen Mann in einem Militärmantel. »Zu wem wollen Sie, Soldat?« »Mama, erkennst du mich nicht?« Großmutter fiel um, wo sie stand. So kehrte mein Vater heim … Mit Erfrierungen am ganzen Körper, seine Hände und Füße wurden nie warm. Meine Mutter? Mutter erzählte immer, Vater sei sehr sanftmütig aus dem Lager zurückgekommen, dabei hatte sie befürchtet … andere hatten ihr Angst gemacht und gesagt, von dort kämen die Menschen böse zurück. Unser Vater aber wollte sich am Leben freuen. Für alle Wechselfälle des Lebens hatte er einen Wahlspruch: »Nur Mut – das Schlimmste kommt erst noch!«
Ich weiß nicht mehr … Ich weiß nicht mehr, wo das war … an welchem Ort. Im Durchgangslager vielleicht? Sie krochen auf allen vieren über einen großen Hof und aßen Gras. Dystrophiker, Unterernährte mit Hautausschlag. Bei unserem Vater durfte man sich über nichts beklagen, er wusste: »Zum Überleben braucht der Mensch nur drei Dinge: Brot, Zwiebeln und Seife.« Nur drei Dinge … mehr nicht … Diese Menschen gibt es nicht mehr, Menschen wie unsere Eltern … Die noch übrig sind, sollte man im Museum ausstellen, hinter Glas, und nicht anfassen. Was haben sie alles durchgemacht! Als Vater rehabilitiert wurde, bekam er als Entschädigung zwei Soldatensolde für all sein Leid. Trotzdem hing bei uns zu Hause lange ein Stalin-Bild an der Wand. Sehr lange … daran kann ich mich gut erinnern … Vater hegte keinen Groll, er meinte, das sei eben die Zeit gewesen. Eine harte Zeit. Wir mussten schließlich ein großes Land aufbauen. Das haben wir geschafft, und wir haben Hitler besiegt! Vaters Worte …
Ich war ein ernstes Mädchen, ein echter Pionier. Heute heißt es ja, dass man in die Pionierorganisation gezwungen wurde. Ganz und gar nicht! Alle Kinder träumten davon, Pionier zu werden. Dabei zu sein. Mit Trommel, mit Trompete. Die Pionierlieder zu singen: »Heimatland, du bist auf ewig mir das liebste Land der Welt!« 2 »Wir sind Millionen, wir jungen Adler, und stolz ist auf uns unser Land …« 3 . Unsere Familie hatte ja diesen »Makel«, dass Vater gesessen hatte, und Mutter fürchtete, dass ich deshalb nicht Pionier werden dürfe oder jedenfalls nicht gleich. Aber ich wollte doch genauso sein wie alle. Unbedingt, ja … »Für wen bist du – für den Mond oder für die Sonne?«, fragten mich die Jungen in meiner Klasse. Da hieß es auf der Hut sein! »Für den Mond!« »Richtig! Für das Sowjetland!« Antwortete man: »Für die Sonne!«, riefen sie: »Für den verfluchten Japaner!«, und man wurde ausgelacht und verspottet. Wenn wir einander etwas versprachen, sagten wir »Pionierehrenwort« oder »Leninehrenwort«. Das höchste war das »Stalinehrenwort«. Meine Eltern wussten, wenn ich mein »Stalinehrenwort« gab, dann konnten sie sich darauf verlassen. Mein Gott! Ich denke nicht an Stalin, ich denke an unser Leben … Ich meldete mich in einem Zirkel an und lernte Akkordeon spielen. Mama wurde für ihre gute Arbeit mit einer Medaille ausgezeichnet. Es gab nicht nur Schlimmes … nicht nur Kasernenhofleben … Im Lager hat Vater viele gebildete Menschen kennengelernt. Nirgendwo sonst hat er so interessante Menschen getroffen. Manche schrieben Gedichte, und sie überlebten öfter. Genau wie die Priester – die beteten. Vater wünschte sich, dass alle seine Kinder studierten. Das war sein Traum. Wir alle, wir waren vier Kinder, wir haben alle studiert. Aber er hat uns auch beigebracht, mit einem Pflug umzugehen und eine Wiese zu mähen. Ich kann einen Heuwagen beladen und Garben binden. »Alles kann einem mal nützen«, meinte unser Vater. Er hatte recht.
Ich möchte zurückschauen … Ich möchte verstehen, was wir erlebt haben. Nicht nur mein eigenes Leben, sondern unseres … unser sowjetisches Leben … Ich bin nicht begeistert von meinem eigenen Volk … Auch nicht von den Kommunisten und von unseren kommunistischen Führern. Besonders heute. Alle sind so seicht geworden, so verbürgerlicht, alle wollen ein schönes und süßes Leben. Wollen konsumieren und konsumieren. Raffen! Auch die Kommunisten sind nicht mehr dieselben. Bei uns gibt es Kommunisten mit einem Jahreseinkommen von Hunderttausenden Dollar. Millionäre! Eine Wohnung in London … ein
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